Das Glück der Zikaden
Zettelbrief, meinte, sich dunkel zu erinnern, daß er ihn genommen und irgendwo hingelegt hatte, und begann, auf den Krieg, auf Stalin und die Russen zu fluchen, auf Hitler, auf die Deutschen, auf jeden Erdenklichen, der seinen Weg kreuzte und gekreuzt hatte. Er erinnerte sich, daß man weder in Gedanken noch in der Gegenwart von Toten fluchen soll, wenn man kein Interesse daran hat, in der Hölle zu landen. Er sagte sich, daß er Herrn Weniger eine Todesanzeige schicken müßte. Er fluchte auf Herrn Weniger, der es geschafft hatte, Nadjas Vertrauen zu gewinnen, er fluchte auf das leise Flüstern am Rande seines Alltags, das er so lange nicht bemerkt hatte. Er trank ein Glas Wasser, das seine Tochter ihm reichte, er aß ein Brot, das sein Sohn ihm reichte, er sah den Schmerz im Gesicht seines Sohnes und sagte zu ihm: »Hilf mir, den Ring von ihrem Finger zu ziehen.«
Peter schaute seinen Vater an und wollte protestieren. Dann sah er den runden Rücken seines Vaters, wie er dort am Bettrand saß, die wenigen Haare auf dem Kopf zerzaust, das Gesicht ratlos von Trauer. Peter beugte sich über den Leichnam seiner Mutter, bog ihre Hand, daß er nach ihrem Ehering greifen konnte, und zwirbelte ihn behutsam über die milchige Haut. Er legte ihn in die offene Hand seines Vaters, der das schmale Gold sofort umschloß.
S enta und Michael heirateten vier Wochen nachdem Gregor von der Stadt hinterm Schlagbaum verschluckt worden war. Natürlich lag der Schatten von Nadjas Abschied über dem Tag. Es war eine schlichte, bescheidene Trauung im Standesamt des Charlottenburger Rathauses, ein paar Meter weiter und Stufen tiefer war der Ratskeller, in dem im Anschluß Senta, Michael, Peter und Anton noch Kalbsleber und Klöße aßen.
Anton war nur bedingt fähig, an höflichen Konversationen teilzunehmen, er grummelte ab und zu etwas, aß ansonsten fahrig und unkonzentriert. Senta war während des gesamten Essens damit beschäftigt, darüber nachzudenken, wie sie die Lücke von acht, neun Wochen, die sie nun schon schwanger war, vor Michael würde schließen können. Sie redete nur das Nötigste und verlegte sich aufs Lächeln und Zuhören. Michael und Peter unterhielten sich blendend, sie schafften es, scheinbar mit spielerischer Leichtigkeit, die Ungeselligkeit der anderen zu kompensieren. Michael hatte gerade sein Großes Juristisches Staatsexamen abgelegt, mit einer eindrucksvollen Punktzahl, er war noch erfüllt von der Erleichterung, gemischt mit Stolz, es geschafft zu haben. Er klopfte mit seinem Messer ans Glas und sagte in seiner kleinen Ansprache, wie dankbar er dem Schicksal oder wemauchimmer sei, im Studium Generale genau die Weber-Seminare besucht zu haben, in denen auch Senta, die Lehramtsstudentin, gesessen hatte. Er erwähnte Gregor mit keinem Wort. Sentaschaute den ihr Angetrauten an, erstaunt über das selbstsichere Schaffen von Tatsachen, schon schien es. Als habe es weder Gregor gegeben noch die Küsse im Flur, von denen Michael doch wußte. Es hatte etwas Erleichterndes, der klare Schnitt, das Schweigen, der Blick nach vorn.
Peter glühte förmlich, als er Michael nach dem Zuprosten weiter von seinem begonnenen Studium der Physik erzählen konnte. Auch er erwähnte mit keinem Wort den Abbruch, den es vorher gegeben hatte – er hatte die Juristerei hingeschmissen –, und Senta versuchte im Gesicht ihres Vaters eine Reaktion zu finden, sah ihn aber nur kauen, langsam, fast würgend schlucken, wobei er nach seinem Weinglas griff und es in kleinen, raschen Zügen leer trank. »Es gibt so unendlich viel herauszufinden«, hörte sie ihren Bruder sagen, »ich sag nur: die Weltformel, die den Mikrokosmos mit der Gravitation des Makrokosmos vereinigen wird. Da mit dabei zu sein, mein Gott, kann ich da in irgendeiner Amtsstube verstauben?«
»Wir verstauben alle«, sagte Anton und spießte das letzte Stück Fleisch auf seinem Teller auf.
Michael griff nach Sentas Hand. Sie wandte sich ihm zu und meinte, in seinem Blick noch das Staunen darüber zu sehen, sie nun an seiner Seite zu wissen. Er hatte ihr kurz nach dem Betreten des Restaurants zugeflüstert, wie stolz es ihn mache, sie seine Frau nennen zu dürfen, von nun an und den Rest seines Lebens. Im halbdämmrigen Licht des Kellerrestaurants erinnerte sein Gesicht plötzlich an eine gutgenährte Renaissance-Putte mit der typischen sommersprossigen Pausbäckigkeit, den dunklen, großen Augen, dem leicht gelockten Haar. Sie hörte, wie er sagte, daß es ihn am
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