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Das Glück der Zikaden

Das Glück der Zikaden

Titel: Das Glück der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Larissa Boehning , Pößneck GGP Media GmbH
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meisten nerve, wenn jemand distanzlos und naiv sei. Nach dem ersten Zusammenzucken begann sie, die Aussage als Warnung zu verstehen. Gregor war in Michaels Augen ein distanzloser Mensch, naiv sowieso. Unter seinem Einfluß wäresie genauso geworden. Wofür sollte sie Distanz wahren und Realistin sein?
    Michael zog sie zu sich und küßte sie vorsichtig auf die Schläfe. Sie lächelte, und es mischte sich ein kleines Triumphgefühl mit hinein, daß er nie eine ihrer koordinierenden Überlegungen würde erraten können. Sie folgte dem drängenden Impuls, ihr Glas gefüllt zu bekommen, mit Michael anzustoßen.
    Er schmeckte die Bratensoße und das Fleisch, die Süße des Weißweines, der alles miteinander zu verkleben schien, und schwor sich beim Zuprosten und Trinken, sein ganzes Leben nie eins aus den Augen zu verlieren: Dieser Frau immer das Gefühl zu geben, daß sie das Wichtigste in seinem Leben sei.
    Sie betraten die erst vor ein paar Tagen angemietete Anderthalb-Zimmer-Wohnung in Berlin-Tiergarten, Michael legte den Schlüssel auf die Fensterbank im Wohnzimmer und sog den Geruch des Neuen ein. Senta stach schon seit geraumer Zeit die Spitze des schlecht vernähten Reißverschlusses ihres Kleides im Rücken, sie setzte sich auf die Bettcouch, die Anton in die Wohnung hatte bringen lassen, um das Zimmer tagsüber als Wohn- und Eßzimmer und nachts als Schlafzimmer nutzen zu können. Senta räkelte sich in der Fremdheit, von der es nun keine Ablenkung mehr gab. Als der Standesbeamte sie zum Küssen aufgefordert hatte und Michael Senta geküßt hatte, da war ihr das Fremde in diesem Kuß wie ein Sodbrennen aufgestiegen, sie hatte es heruntergeschluckt, die Vorstellung von dem walnußgroßen Lebewesen in ihrer Gebärmutter gleich dazu.
    »Ich würde dir eh gerne beim Ausziehen helfen«, sagte er, während er beobachtete, wie sie sich in ihrem Kleid scheinbar unwohl hin- und herbewegte.
    »Du klingst wie mein Arzt.«
    »Der hilft dir aber nicht beim Ausziehen.«
    »Im Gegenteil«, sagte sie verschämt.
    »Vielleicht sollte ich mit dem mal reden«, scherzte Michael und setzte sich zu ihr. Senta bereute, diesen Arzt nur erwähnt, die dazugehörigen Assoziationen provoziert zu haben, und suchte nach einer Möglichkeit der Ablenkung. Sie legte ihren Kopf in Michaels Schoß.
    »Ob da jemand mal vor mir an der Reihe war.«
    »Was soll das denn heißen, an der Reihe war.«
    Sie schwiegen, der Reißverschluß stach.
    »Und bei dir?«, fragte Senta, plötzlich erleichtert, einen Ausweg gefunden zu haben.
    Er strich über ihre Stirn, berührte ihre Lippen. »Ich kann Frauen, die sich anbiedern, gut widerstehen.«
    »Charmant, deine Liebeserklärung.«
    Er küßte sie, und sie spürte seinen Willen, von ihr Besitz zu ergreifen, wie es nun sein gutes Recht war. Instinktiv rollte sie sich zusammen, hielt still, auch, um den ersten kleinen Groll, den sie meinte wahrgenommen zu haben, nicht weiter zu nähren. Er öffnete den Reißverschluß, die Kälte des Metalls lief ihr als Schauer über die Wirbelsäule. Mit größerer Mühe pfriemelte er die mehrfach gesicherten Häkchen ihrer Corsage auf. Sie hatte den kratzigen Wollbezug der Couch unter sich und schloß die Augen. Sie öffnete sie sofort wieder, um nicht das Bild ihrer Mutter in Schwarz zu sehen, wie sie hinter eben diesem Sofa gelegen hatte, im schmalen Korridor unterhalb des Fensters, der Tod hatte mit einem übermäßigen Einsatz der Gravitationskräfte zu tun, ging es ihr in dem Moment durch den Kopf, der Tod zwang den Menschen in die Horizontale. Sie behielt die Augen offen, um die Gedanken in Schranken zu weisen, sie sah in Michaels Gesicht, in sein freundliches, harmloses Gesicht, das sie nicht lieben konnte. Er tastete sich Zentimeter für Zentimeter voran, während sie zum ersten Mal das machte, was sie fortan im Rahmen ihrer ehelichen Pflichten immer machte: Sie zogsich aus der Gegenwart zurück. Sie wechselte die Seite. Sie betrat den Raum ihrer Vorstellung, hinter ihr schloß sich der schwere Vorhang, und das Stück lief ab – ein Stück, in dem alles gutging, alles nach Plan, keine Konflikte. Wie ihre Mutter, verließ sie diese Bühne nicht mehr, diesen Ort des Rückzugs, die Einsamkeit.
    Unter dem Deckmantel der Schwangerschaft fiel ihr das besonders leicht. Ihre gesamte Wahrnehmung wanderte nach innen, setzte sich dort fest, wurde undurchlässig für alles, was keinen Platz in dieser friedlichen Weltabgewandtheit hatte, so daß sie manchmal viele Tage dafür

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