Das Glück der Zikaden
Genaugenommen kam er nie über Für Elise hinaus. Wenn sie Schach spielten, saßen sie auf den Kissen der Sofas, die Katarina in den an das Arbeitszimmer grenzenden Wintergarten ausgelegt hatte, sie tranken Schnaps und manchmal auch Cognac, Weinbrand oder Likör, und Anton ließ sie so lange gewinnen, bis seine Beine im Schneidersitz eingeschlafen waren, er ihren Übermut in Schranken weisen mußte und sie nach drei Zügen schachmatt schlug.
So war es um die Bewohner des Hauses bestellt, als es unten an der Tür klingelte.
Das Lydchen stand noch in der Sekunde des ersten Läutens auf, legte die Nagelfeile zur Seite, strich sich ihren Rock glatt und prüfte, ob ein Taschentuch im Ärmel ihres Pullovers steckte.
Die beiden Frauen lächelten jeweils gequält, die Befangenheiten waren zu groß. Lydchen nestelte in ihrem Ärmel nach dem Taschentuch, das eingeschnaubt genug aussah, so daß niemand, der es in ihrer Hand sah, noch ein großes Bedürfnis nach einer Begrüßung verspürt hätte. Senta machte erst gar keine Anstalten, ihre kalten Finger aus den wärmenden Taschen zu ziehen. Sie wünschte sich Michael an ihre Seite, er hätte sein Haus selbstverständlich aufgeschlossen und wäre hineingegangen – vielleicht war es das erste Mal, daß sie seine Abwesenheit als Leere neben sich spürte. Der sanfte Hügel des Kopfsteinpflasters lag hinter ihr, der verwitterte Zaun, seine altersmüden Speerspitzen. Kein Schnee, kein Regen, nur eine Kälte, die von überall hineinkroch.
»Wollen Sie noch etwas zum Essen?«, fragte Lydchen statt einer Begrüßung.
Senta ging an der ergrauten Frau vorbei, jedoch nur einige Schritte, dann drehte sie sich um. Es roch im Haus, wie es eigentlich immer gerochen hatte, nach Kohlsuppe undGriesbrei mit Zimt, nach dem Staub in den Samtvorhängen, nach Holunder-Majoran-Tee und dem Holz der Fußböden. Eine neue Nuance war dazugekommen. Ein Demut verbreitendes Veilchenparfüm.
Lydchen deckte sofort den Tisch in der Küche, zwei Suppenteller, ein Korb mit Brot, zwei Löffel, eine neue Butterschale aus Edelstahl mit Plastikhaube.
»Wer ißt mit mir?«, fragte Senta.
»Ihr Vater nimmt so spät nichts mehr zu sich. Aber bestimmt Ihre Tochter.«
Senta war drauf und dran, Überraschung zu spielen, dann sagte sie nichts, setzte sich nur an den Tisch. In der Gegenwart von Lydchens mütterlicher Bestimmtheit schrumpfte Sentas Selbstverständnis als Frau auf ein Minimum. »Sie wußten natürlich, daß Katarina hier bei uns lebt«, konstatierte Lydchen im Tonfall der Überzeugung, daß Familie eine unzerstörbare Einheit ist, die im Zweifelsfalle durch gutes Essen zusammengeführt werden konnte. »Nur deshalb sind Sie hier.«
Schon war die Suppe warm, und Lydchen schickte sich an, ins Arbeitszimmer zu gehen. Da begann die Saudade.
Ohne daß Lydchen oder Senta es hätten bemerken können, war Katarina in ihrem Innehalten am Klavier der Umstand bewußt geworden, daß mit dem Klingeln niemand anderes als ihre Mutter das Eckhaus betreten hatte. Katarina spürte die Kühle der Tasten, den Rand der Matratze unter ihren Fußsohlen, hatte Beethovens Lockenkaskade im Augenwinkel, darunter den Samtschnee mit graubraunem Faltenwurf. Sie hatte Lydchens Verkupplungsversuch gehört. Sie holte Luft, schüttelte kurz ihre Finger aus und stürzte sich in Rachmaninows 2. Klavierkonzert, in seine Läufe und Gänge, rannte durch sie hindurch, als laufe sie über brennendesGras. Ohne noch nach links und rechts zu schauen, schlug sie in die Tasten, rettete sich in seine russische Melancholie und vor der Anwesenheit ihrer Mutter, mit der sie – das hatte sie sich in einer Minute jugendlicher Selbstgerechtigkeit geschworen – nie mehr ein Wort reden würde. Höchstens noch durch Rachmaninow würde sie ihr sagen, was sie von ihr dachte. Sollte er von der Trance, der Hypnose und dem darin bewältigten Schmerz erzählen, davon erzählen, wie es einem Menschen ging, der von einem anderen sehr verletzt worden war. Sie selbst würde ihre Schwächen nicht offenbaren. Sollte ihre Mutter zuhören, solange die Suppe heiß war.
Senta aß, während Lydchen an der Einbauspüle lehnte und ratlos das Taschentuch im Ärmel von oben nach unten drehte. Beide hofften auf ein Ende der wütenden Musik, Senta aus anderen Gründen als Lydchen. Lydchen hoffte außerdem, daß Anton auftauchen und für einen Ausgleich der Mißstimmung sorgen könnte, aber Anton war nichts Ungewöhnliches im oberen Mansardenzimmer aufgefallen, auch das
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