Das Glueck einer einzigen Nacht
„Vielen Dank, Marvin“, sagte er mit jenem gewinnenden Lächeln, das Marvin so sehr an seinen Bruder Edward erinnerte.
Er ergriff die Hand des Jungen und hielt sie eine ganze Weile fest. „Nichts zu danken, Danny“, sagte er freundlich. „Nach ein paar Unterrichtsstunden wirst du ein phantastischer Schütze sein.“
„Kannst du mir das Schießen beibringen, Marvin?“ platzte Danny heraus.
Barbara hielt es für besser, den Übereifer ihres Sohnes zu bremsen. „Du darfst dich nicht aufdrängen, Danny. Marvin ist ein vielbeschäftigter Mann“, ermahnte sie ihn.
Marvin, der ihren Einwand sofort durchschaut hatte, mußte lächeln. „So beschäftigt bin ich nun auch wieder nicht. Außerdem würde Danny mir nie zur Last fallen.“ Und an den Jungen gewandt, fügte er hinzu: „Wir treffen uns dann übermorgen bei mir zu Hause.“
„Ich komme bestimmt, Marvin!“ rief Danny begeistert und übersah völlig den mißbilligenden Blick seiner Mutter.
„Dann eine gute Nacht allerseits.“ Marvin fuhr dem Jungen über den Lockenkopf, nickte Barbara und Jim Akins freundlich zu und ging.
„Das ist aber ein netter Mann, Mami. Ist er ein Freund von dir?“ Dannys arglose Frage riß Barbara jäh aus ihrer Versonnenheit. Glücklicherweise kam ihr Jim zu Hilfe.
„Nun, auf jeden Fall ist er dein Freund“, meinte er zu dem Jungen. „Wie wär’s, wenn wir uns jetzt einen kühlen Saft holten? Mich hat all die Aufregung richtig durstig gemacht.“
„Ein Glas Apfelwein?“ erkundigte sich Danny erwartungsvoll.
„Kirschlimonade“, verbesserte Jim ihn lachend, während er Barbara heimlich zuzwinkerte.
Nachdem sie ihre Limonade getrunken hatten und noch einmal über den Festplatz geschlendert waren, wurde es für Danny Zeit, ins Bett zu gehen. Und als Gentleman bestand Doc Akins selbstverständlich darauf, die beiden nach Hause zu begleiten. Während Barbara ihren Sohn zu Bett brachte, wartete er auf der Terrasse auf sie.
„Welche Sünden haben Sie in den Augen dieser Leute eigentlich begangen?“ fragte er direkt, als Barbara nach einer Weile zu ihm auf die Terrasse hinauskam.
Dabei schaute er sie mit sorgenvoll gerunzelter Stirn an.
Weil sie ihn immer nur fröhlich und unbeschwert erlebt hatte, wußte Barbara im ersten Moment nicht, wie sie auf seine Frage reagieren sollte. Seufzend blickte sie zu dem nachtschwarzen Himmel auf, während sie nach den richtigen Worten suchte.
„Hauptsächlich macht man mir wohl mein aufsässiges Wesen zum Vorwurf“, sagte sie schließlich nachdenklich. „Ich glaube, die Leute sehen bei mir Eigenschaften, die sie sich selbst nicht eingestehen mögen – Unzufriedenheit, Ungeduld und eine unbestimmte Sehnsucht. Diese Bergbewohner haben eine seltsame Art von Stolz, die ihnen vorschreibt, das Leben nicht herauszufordern, sondern es zu ertragen. Ich habe nie gelernt, mich an Einschränkungen zu halten, und deshalb bin ich in ihren Augen eine Rebellin.“ Barbara war so in ihre Gedanken versuchen, daß ihr gar nicht auffiel, daß Jim von
dem
hölzernen
Terrassengeländer,
auf
dem
er
gesessen
hatte,
heruntergerutscht war. Jetzt stand er vor ihr auf dem feuchten Rasen. Noch ehe sie begriff, was er vorhatte, legte er ihr die Hände um die Taille, hob sie vom Geländer herunter. Erschrocken schaute sie ihn an.
„Ich kann in Ihnen nur edle Charaktereigenschaften entdecken, Barbara, und gewiß
nichts,
worüber
Sie
Reue
empfinden
müßten.
Sie
sind
eine
außergewöhnliche Frau mit einer wunderbar lebensbejahenden Einstellung.“ Mit den Fingerspitzen hob er ihr Kinn an, um ihr einen zarten Kuß auf die Lippen zu geben. Und als er ihren überraschten Gesichtsausdruck sah, kniff er sie liebevoll in die Stupsnase, fügte lächelnd hinzu: „Das weiß ich ebenso sicher wie daß es morgen regnen wird. Ich kann nämlich Zeichen deuten.“ Im nächsten Moment ließ er sie los und verschwand in der Dunkelheit.
Vorsichtig kletterte Barbara über schroffes Felsgestein den steilen Abhang zum Beavers Creek hinunter. Doch obwohl ihr der Abstieg eigentlich vertraut war, stieß sie sich an einem hervorstehenden Felsen hart das Schienbein. Schmerzhaft verzog sie das Gesicht und ließ sich auf einem großen, flachen Stein nieder, um sich mit der Handfläche die verletzte Stelle zu reiben. Dabei war ihr zumute, als müßte sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. Es war nicht nur ihr Schienbein, das ihr weh tat. Es war vor allem der Schmerz in ihrem Innern, der sie quälte. An diesem
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