Das Glueck einer einzigen Nacht
zu erzählen.
„Dein Vater, mein Sohn Zachary, war ein echtes Kind dieser Berge. Er liebte das einfache Leben. Und deshalb ging er auch nur widerstrebend zum Militär.
Nachdem er kurze Zeit in Korea gedient hatte, war er in St. Louis stationiert.
Natürlich hatte er noch nie eine solche Stadt gesehen. Er war jung und einsam, und als er dann deiner Mutter begegnete, verliebte er sich Hals über Kopf in sie.“
„Das verstehe ich nicht“, unterbrach Barbara. „Ich dachte…“
„Hör mir erst einmal zu, dann wirst du schon begreifen“, befahl die alte Frau.
„Ich habe mir nie erklären können, warum deine Mutter meinen Sohn geheiratet hat. Denn sie hat ihn nie verstanden. Das weiß ich genau. Sie dachte wahrscheinlich, sie könnte ihn umkrempeln, aber das ließ dein Vater nicht mit sich machen. Nach einem Jahr hatten sie dich und eine Menge Probleme. Dein Vater wollte sie zwingen, mit ihm in die Berge zurückzugehen, aber deine Mutter liebte viel zu sehr das Stadtleben. Als sie sich schließlich gar nicht mehr vertrugen, hat sie ihn weggeschickt. Und dich sollte er mitnehmen, ein Baby hätte keinen Platz in ihrem Leben. Ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem er, dich auf dem Arm, diesen Weg entlangkam. Er war ein gebrochener Mann, der seinen Stolz und seine Familie verloren hatte. Nicht, daß er ein schwacher Mensch gewesen wäre, aber er war leer, hatte einfach zu viel von sich zurückgelassen.“
Grandma blickte ihre Enkelin lange und forschend an. „Wie ähnlich du ihr siehst“, seufzte sie. „Deinem Vater hat diese Ähnlichkeit immer Sorgen bereitet. Er hatte ständig Angst, auch du könntest mit dem bescheidenen Leben hier unzufrieden werden und ihn wie deine Mutter verlassen. Sechs Jahre sind nun seit seinem Tod vergangen, und ich bin sicher, daß er nach der Trennung von deiner Mutter keine glückliche Stunde mehr hatte.“
„Grandma, warum habt ihr mich in dem Glauben gelassen, meine Mutter sei kurz nach meiner Geburt gestorben? Wenn ihr mir gesagt hättet, daß ich eine Mutter in St. Louis habe, hätte ich sie doch besuchen können.“ Barbara konnte kaum glauben, was Grandma ihr eben erzählt hatte. Vieles aus ihrer Kindheit bekam plötzlich eine völlig andere Bedeutung.
„Weil sie gestorben ist, noch bevor du drei Jahre alt warst. Sie hatte einen Autounfall. Dein Vater hat sich immer eingeredet, sie sei auf dem Weg zu ihm gewesen. Aber das stimmt nicht. Jahrelang hat sie weder geschrieben, noch angerufen, da mag ich an eine Heimkehr zu ihrer Familie nicht glauben. Ich habe dir diese Geschichte erzählt, weil ich hoffe, daß du deine Lehren für dein Leben daraus ziehen kannst. Du mußt einen Sohn großziehen und ein Geschäft führen.
Dein Leben steht nicht still. Du warst niemals zufrieden in diesen Bergen, dazu bist du zu unruhig. Aber du liebst sie trotzdem, weil mein Blut und das Blut meines Sohnes in deinen Adern fließt. Du bist vielleicht genauso schön wie deine Mutter, aber genau wie dein Vater kannst du nur einmal im Leben lieben. Als du das erste Mal von hier fortgingst, habe ich getrauert. Diesmal sage ich dir, daß du gehen sollst. Fahr nach Dallas zurück, atme Stadtluft und warte den Herbst ab.“
„Aber was ist mit Danny? Er ist doch so glücklich hier. Glücklicher, als ich ihn je erlebt habe. Ich kann ihn doch nicht…“
„Unsinn“, unterbrach Grandma sie kurz. „Natürlich kannst du! Danny bleibt bei mir. Ich habe dich schließlich auch großgezogen. Ich werde schon mit ihm zurechtkommen. Außerdem ist Marvin ja in der Nähe. Also, was ist? Wirst du meinen Rat befolgen?“ Grandma legte den Kopf schief und schaute Barbara streng an. Als diese dann zögernd nickte, meinte sie befriedigt: „Dann ist es also abgemacht.“ Liebevoll tätschelte sie ihrer Enkeltochter die Wange.
Nachdem Grandma die Tür hinter sich geschlossen hatte, blickte Barbara erneut auf das fallende Laub hinaus. Das Rascheln der welken Blätter kündigte den nahenden Herbst an. Sie mußte an die Geschichte denken, die sie gerade von Großmutter gehört hatte. Ihr Vater hatte die Hälfte seines Lebens damit verbracht, einem verlorenen Glück nachzutrauern. Drohte ihr jetzt das gleiche Schicksal?
„Gute Nacht, Marvin“, sagte Danny, als Marvin das Licht ausknipste und zur Tür ging.
Marvin blieb stehen, drehte sich noch einmal nach dem Jungen um. Liebevoll schaute er ihn an. „Schlaf gut, Danny“, meinte er lächelnd, bevor er leise das Zimmer verließ, um in die Bibliothek
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