Das Glueck einer einzigen Nacht
zu gehen.
Wie so oft in den letzten Tagen, goß er sich ein Glas Cognac ein und ließ sich dann in seinen Lieblingssessel fallen. Während dieser Woche, die Danny bei ihm verbrachte, waren seine Tage mit fröhlichem Lachen und längst verloren geglaubter Energie erfüllt. Aber wenn er Danny dann abends zu Bett gebracht hatte, wenn es im ganzen Haus plötzlich ganz still wurde, dann überkam ihn die Einsamkeit. Es waren diese endlos langen Nächte, die er fürchtete, diese verdammte Dunkelheit, die nichts als quälende Erinnerungen brachte. Es war schon schlimm genug, daß er jedesmal an Barbara erinnert wurde, wenn er Danny über die kupferfarbenen Locken strich. Aber nachts beherrschte ihr Geist das ganze Haus. Ihr Gesicht war überall – in den dunklen Fensterscheiben, auf dem Grund seines Glases, und ihre Stimme verfolgte ihn bis in sein leeres Bett.
Marvin stand auf, holte sich die Cognacflasche vom Schreibtisch und goß sich ein zweites Glas ein, das er in einem Zug herunterstürzte. Würde die Liebe zu Barbara ihn denn ein Leben lang verfolgen, konnte er je wieder von ihr loskommen? Aber wollte er das wirklich?
Bereits als Junge hatte er sie verehrt, und er würde sie immer lieben.
Er goß sich ein drittes Glas ein. Wie sehr er sich nach ihr sehnte! Und wie sehr er sich gleichzeitig dafür haßte. Sogar das Andenken seines toten Bruders verfluchte er. Denn es schien Marvin, als erhebe Edward selbst vom Grab aus noch Anspruch auf Barbara und Danny, alles, was ihm im Leben etwas bedeutet.
Langsam nagte die Eifersucht an ihm.
Dazu kamen die dauernden Schuldgefühle, die er nicht unterdrücken konnte.
Alles wäre anders, hätte es Edward nie gegeben. Dann würde Barbara jetzt vielleicht ihm gehören und Danny könnte sein…
Marvin nahm hastig einen tiefen Schluck Cognac. Mein Gott! Wie weit war er schon! Er hatte Edward doch geliebt! Hatten sie nicht bis hin zu ihrer unglückseligen Liebe zu Barbara alles miteinander geteilt?
Langsam tat der Cognac seine beruhigende Wirkung, bald würde er seinen Schmerz nicht mehr fühlen. Noch ein weiteres Glas, um damit die lange Zeit bis zum Morgengrauen zu überbrücken.
Schwerfällig stand Marvin auf und ging durch den Flur zu seinem Schlafzimmer.
Hier hatte er mit Barbara ein paar wunderbare Nächte lang die Realität vergessen können. Ohne sich auszuziehen, legte er sich aufs Bett.
In seinem Kopf drehte sich alles. Mein Gott, warum mußte die Erinnerung an sie nur so nahe, warum mußten die Nächte so endlos lang sein?
Am Tag, an dem Barbara zurückkommen sollte, war Danny schon am frühen Morgen voller gespannter Erwartung. Er vermißte seine Mutter sehr, obwohl die Zeit mit Marvin wunderbar gewesen war. Während sie am Frühstückstisch saßen, konnte Marvin jedoch dem aufgeregten Geplapper des Jungen nur mit halbem Ohr folgen. Irgend etwas stimmt nicht!
Den ganzen Morgen schon plagte ihn ein rätselhaftes Gefühl, das ihn urplötzlich ergriffen hatte. Marvin redete sich ein, daß sei der drohende Abschied von Danny, aber er wußte, daß mehr dahintersteckte.
Als es dann überraschend klingelte, wußte er, noch bevor er die Haustür geöffnet hatte, daß der Besucher keine guten Nachrichten bringen würde. Auch Danny war von seinem Stuhl aufgesprungen, setzte sich aber sofort wieder hin, als er Marvins Hand auf seiner Schulter spürte.
„Du ißt erst dein Frühstück auf. Danach kannst du Navajo futtern gehen. Ich treffe dich dann später draußen bei den Ställen.“
„Okay!“
Eifrig goß Danny sich eine reichliche Portion Ahornsirup auf seinen Pfannkuchen und schob das Ganze genußvoll in den Mund. Marvins ungewöhnlich ernster Gesichtsausdruck war ihm nicht aufgefallen.
Nachdem er dem Jungen noch einmal liebevoll übers Haar gestrichen hatte, ging Marvin zur Haustür. Einen Moment blieb er zögernd stehen, dann öffnete er entschlossen.
„Hallo, Lloyd“, begrüßte er überrascht seinen unerwarteten Besucher. „Du bist aber schon früh auf den Beinen.“
Lloyd Prentiss nahm seinen Hut ab und betrat die Eingangshalle. „Es tut mir leid, dich beim Frühstück zu stören, Marvin. Aber es ist wichtig“, erklärte er verlegen.
Marvin blickte sich nach Danny um, der noch immer mit seinem Pfannkuchen beschäftigt war. „Wir sollten uns lieber in der Bibliothek unterhalten. Geh schon mal voraus, ich hole uns einen Kaffee“, schlug er vor.
Lloyd nickte und verschwand einen Moment später hinter den hohen Flügeltüren der Bibliothek. Derweil
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