Das Glück einer Sommernacht
nicht, wie furchtbar Sie gestern ausgesehen haben!“, rief sie ihm über den Lärm hinweg zu.
„Ich habe schon mein Leben lang Migräneanfälle. Bis jetzt habe ich noch jeden überlebt. Übrigens hatte ich Sie nicht gebeten, bei mir zu bleiben.“
„Wie dumm von mir, dass ich mir Sorgen um Ihren Gesundheitszustand gemacht habe.“ Sie stellte die Mühle ab und sah Alex ironisch an. „Nächstes Mal überlasse ich Sie sich selbst, und Sie dürfen allein in Ihrem Elend schmoren.“
„Vielen Dank.“
„Gern geschehen. Vorsicht!“
Alles geschah wie in Zeitlupe. Alex war zu ihr herübergekommen und griff nach oben, um eine Tasse aus dem Hängeschrank zu nehmen. Als er sich ihr zuwandte, streifte er mit dem Gips ihren Becher. Der alte Kaffeebecher mit den verblassten Blumen wackelte kurz vor und zurück und kippte dann über die Kante. Kelsey versuchte noch, ihn aufzufangen, aber sie war nicht schnell genug. Mit lautem Klirren zerfiel der Becher auf dem Boden in drei große Scherben.
„Nein!“ Kelsey ging in die Knie. Nicht der Becher meiner Mutter! Sie blinzelte, schloss die Augen und hoffte, wenn sie jetzt wieder hinsah, wäre der Becher irgendwie wieder heil.
Sie hatte kein Glück.
Alex’ Beine erschienen in ihrem Gesichtsfeld, und sie hörte seine verlegene Stimme über sich: „Es tut mir leid.“
Sie sah auf. „Er ist kaputt.“ Sein Gesicht verschwamm vor ihren Augen, und sie erkannte gar nichts mehr.
Aber seine Stimme drang zu ihr durch. „Es ist doch nur ein Kaffeebecher.“
Nur ein Kaffeebecher? Natürlich musste er das so sehen. Er sah nur irgendein altes Stück Geschirr.
„Sie finden sicher einen Ersatz …“
Wie denn? Per Zeitreise? Es war nicht seine Schuld, dass er keine Ahnung hatte, was der Becher für Kelsey bedeutete. Wie konnte Alex Markoff wissen, dass das letzte greifbare Stück ihrer Kindheit, ihrer wahren Kindheit mit ihrer richtigen Mutter, hier in Scherben auf seinem Küchenboden lag?
Ihre Augen brannten, und ein Schluchzen stieg in ihr hoch. Oh Gott, gleich würde sie vor Alex Markoff in heiße Tränen ausbrechen, die sie nicht mehr unterdrücken konnte.
„Verstehen Sie denn nicht?“, stieß sie hervor und wischte sich heftig die Wangen ab. Natürlich verstand er sie nicht! Er lebte als Eremit in den Wäldern, dem es völlig egal war, ob irgendeinem Menschen auf der Welt etwas an ihm lag oder nicht. Wie sollte er dann begreifen, was sie gerade verloren hatte?
„Man kann ihn nicht ersetzen. Er ist kaputt. Für immer verloren.“ Eine Träne rollte ihr über die Wange. Ärgerlich wischte sie sie fort. Sie ließ die Scherben auf den Boden fallen und rannte aus der Küche, bevor sie völlig zusammenbrach.
„Kelsey!“
Sie reagierte nicht. Alex konnte jetzt sagen, was er wollte, es würde nichts mehr ändern. Seine letzten Worte hallten endlos in ihr nach: „Nur ein Becher, nur ein Becher.“ Das Echo klang wie reiner Hohn.
Blindlings stürmte sie die Treppe in ihr Zimmer hinauf, schlug von innen die Tür zu und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Nur ein Becher. Alex hatte recht. Was war schon ein verblasstes, gesprungenes Stück Porzellan? Was bedeutete es denn schon, dass sie das blöde Ding von Pflegefamilie zu Pflegefamilie mitgeschleppt hatte? Was machte es schon, dass … Sie schluchzte laut auf.
Alles stürzte jetzt gleichzeitig über sie herein, ihre Einsamkeit, ihre Vergangenheit, die Untaten ihrer Großmutter. Die letzten Dämme brachen. Warum wollte sie niemand? War sie so wenig liebenswert?
Sie rutschte an der Tür hinunter und ließ sich endlich von Selbstmitleid überschwemmen.
Wie lange sie dort so auf dem Boden saß und weinte, wusste sie nicht. Eine halbe Stunde, eine Stunde? Irgendwann hörte sie zu schluchzen auf. Was geschehen ist, ist geschehen. Wie sehr sie auch damit hadern mochte, es änderte nichts an der Tatsache. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als die Scherben aufzusammeln und wieder nach vorn zu sehen. So hatte sie es schon ihr Leben lang gehalten, und so würde sie es weiter tun.
Sie rieb sich die nassen Wangen ab, zog die Nase hoch, unterdrückte eine letzte Träne und rappelte sich auf.
Als Kelsey am nächsten Morgen hinunterkam, war das Haus noch stiller als sonst. Vielleicht hatte ihr gestriger Ausbruch Alex aus seiner Winterruhe aufgeschreckt. Und nun war er unterwegs, auf der Suche nach einigen kräftigen Männern in weißen Kitteln, die sie abholen kamen. Kelsey stöhnte auf.
Im hellen Licht des neuen Morgens war ihr
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