Das Glück geht nicht zu Fuß: Wie mein Leben ins Rollen kam (German Edition)
Spezialklinik wusste niemand, was bei meiner Operation schiefgelaufen war. Auch der Chefarzt nicht.
»Als wir zugemacht haben, war alles trocken«, sagte er zu meinen Eltern.
»Und wo ist das Blut dann hergekommen?«, wollte meine Mutter wissen.
»Das kann ich mir auch nicht erklären. Ich kann nur wiederholen: Beim Zumachen war alles trocken.«
Meine Mutter regte sich fürchterlich über dieses Gespräch auf, als sie mir davon berichtete. »Der war so arrogant und aufgeblasen. Ich habe genau gemerkt, dass der uns für dumme Ossis hält, denen man irgendeinen Brocken vor die Füße schmeißt, und dann gehen die schon wieder.«
»Und sonst hat er nichts gesagt?«, fragte ich.
»Nichts«, erwiderte meine Mutter bitter.
»Das hätten wir uns sparen können«, seufzte mein Vater.
»Zum Schluss hat er noch blöd gelacht«, ereiferte sich meine Mutter, und gesagt: »Richten Sie Ihrer Tochter aus, dass ich Ihr viel Glück wünsche.«
»Danke, dass ihr hingefahren seid«, sagte ich zu meinen Eltern und gab mir Mühe, gefasst zu wirken, weil ich sie nicht noch mehr belasten wollte, obwohl mir ganz flau war. »Am besten, wir vergessen die Spezialklinik und alles, was damit zusammenhängt.«
Es gab jedoch etwas, das konnte ich nicht so einfach vergessen, das brannte mir auf der Seele: Würde ich Kinder bekommen können? Ich hatte mir immer Kinder gewünscht. Natürlich nicht jetzt gleich, erst nach Abschluss meiner Ausbildung.
»Kinder kriegen können Sie trotzdem«, tröstete mich einmal eine Ärztin – meinte sie das wirklich oder wollte sie mich bloß aufmuntern? Auch Andi schien das zu beschäftigen, denn eines Abends sagte er unvermittelt zu mir: »Am liebsten würde ich dich jetzt auf der Stelle heiraten und nächstes Jahr unser erstes Kind im Arm halten.«
Ich konnte nicht antworten, nur weinen. Ich musste oft weinen. Wegen Andi. Wegen mir. Wegen allem. Und später, weil die Dinge nicht so liefen, wie ich es mir wünschte. Weil ich mit dem Rollstuhl nicht zurechtkam. Weil alles so lange dauerte. Weil ich null Fortschritte machte, obwohl ich so hart trainierte.
Manchmal weinte Andi mit mir – allerdings versuchte er es zu verbergen. Hin und wieder stellten wir fest, wie dumm wir früher gewesen waren, wenn wir wegen Kleinigkeiten gestritten hatten. Jetzt hätten wir alles dafür gegeben, unseren Alltag zurückzubekommen. Ich würde mich nie mehr darüber aufregen, wenn Andi den Tisch nicht abwischte oder sich der Papiermüll stapelte. Erst im Schmerz über den Verlust wird das kleine Glück sichtbar.
Manchmal malte ich mir meinen verlorenen banalen Alltag aus. Der Wecker klingelt. Ich drehe mich noch mal im Bett um, spielerisch leicht, allein mit Hilfe meiner Beine, ohne mich vorher aufsetzen zu müssen. Ich bin vielleicht ein bisschen müde, doch um meinen Brustkorb ist kein Gürtel gespannt. Ich gähne und strample mit den Beinen und springe dann aus dem Bett, einfach so, und tapse ins Bad. Einfach so. Ohne mir Gedanken darüber zu machen, wie ich vom Bett in den Rollstuhl komme. Ich setze mich auf die Toilette und lasse es laufen und stehe danach wieder auf. Hinsetzen, aufstehen, hinsetzen, aufstehen, nach Lust und Laune.
Ich gehe in die Küche und hole die Tassen aus den oberen Hängeschränken, die wir so weit oben angebracht haben, dass ich sie gerade noch auf Zehenspitzen erreichen kann. Hin und her zwischen Tisch und Spüle. Knie beugen und strecken, auf und ab, und mit den Zehen wackeln, weil ein paar Brotkrümel auf den Fuß gefallen sind. Einfach so am Tisch sitzen, ohne ständig um das Gleichgewicht zu ringen. Die Bauchmuskeln und unteren Rückenmuskeln, die ich höchstens beim Sport bewusst wahrgenommen habe, arbeiten ständig. Halten mich aufrecht. Ich stehe auf und setze mich freihändig. Muss mich nirgends festhalten, um nicht nach vorne oder seitlich wegzukippen.
Ein Blick zur Uhr. Morgens verfliegt die Zeit nur so. Schnell, schnell ins Bad, Zähne putzen, und dann los die Treppe runter, vier Geschosse, jeweils zwei Stufen auf einmal nehmen und die letzten drei Stufen runterspringen. Zum Auto rennen, einsteigen, Musik an, Gas und Kupplung treten. Im Hotel den ganzen Tag rennen, treppauf, treppab, und bücken und drehen und knien. Mich in der Mittagspause in das tiefe, weiche Sofa neben der Rezeption fallen lassen und einfach wieder aufstehen. Immer wieder aufstehen. Zack, schon wieder oben. Das Normalste der Welt. Überhaupt nichts Besonders. Stinknormaler, langweiliger, öder Alltag.
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