Das Glück geht nicht zu Fuß: Wie mein Leben ins Rollen kam (German Edition)
Abends Wäsche waschen. In die Trommel reinstopfen und aufhängen. Wo ist das Problem? Bett beziehen. Kein Thema! Thema jetzt: Bett verlassen!
Ich konnte mir nicht vorstellen, mich jemals wieder über Kleinigkeiten aufzuregen. Beispielsweise über einen eingerissenen Fingernagel. Heute kann ich mich sehr wohl über Kleinkram ärgern, und wenn mir das auffällt, dann freue ich mich darüber. Ich habe mir meinen Alltag zurückerobert. Dazu gehört der kleine Ärger wie die heißen Himbeeren über dem Vanilleeis. Alltag ist wunderbar! Das ist das, was das Leben ausmacht. Man kann ja nicht erwarten, dass immer irgendetwas Außergewöhnliches passiert. Das Leben besteht aus Alltag, und alles, was als Extra dazukommt, ist ein Geschenk. Wir könnten diese schönen Dinge nicht würdigen, wenn alles immer super wäre.
»Da sucht dich einer«, sagte Jasmin zu mir und rollte gleich wieder aus dem Zimmer, um Andi und mich nicht beim Kuscheln im Bett zu stören. Andi setzte sich ordentlich auf einen Stuhl. Seine Wangen waren rosa. Ich hatte ihn sehr lieb.
Die Tür ging auf, und der Assistenzarzt aus der Spezialklinik schlich bedrückt herein. Es dauerte eine Weile, bis ich ihn erkannte. Dann empfand ich seinen Besuch als nett gemeinte Geste. Doch eigentlich hätte sein Chef, derjenige, der mich operiert hatte, zu mir kommen müssen. Die saloppen Glückwünsche, die er meinen Eltern aufgetragen hatte, klangen noch immer wie Hohn in meinen Ohren.
»Darf ich?«, fragte der Assistenzarzt und blieb an der Tür stehen, als wäre er darauf gefasst, dass ich ihn rauswerfen würde, oder besser gesagt: Andi.
Ich wies auf einen freien Stuhl: »Bitte.«
Er blieb stehen, räusperte sich, kam dann zögernd näher.
»Ich wollte mal sehen, wie es Ihnen geht.«
Er konnte mir nicht in die Augen schauen, hielt den Blick gesenkt auf den Boden.
»Wissen Sie, warum das passiert ist?«, fragte Andi ihn.
Der Arzt seufzte schwer: »Nein. Ich kann es mir nicht erklären. Es war mühselig und kompliziert zu operieren, aber als wir zunähten, waren alle Blutungen gestoppt. Ich habe oft über Ihren Fall nachgedacht, Frau Korb.«
»Aber woher kam denn dann das Blut, wenn Sie alles gut vernäht haben?«
Er zuckte mit den Schultern und sagte leise: »Es tut mir leid.«
»Warum lässt sich Ihr Chef nicht blicken?«, wollte ich wissen.
»Das weiß ich nicht. Ich bin aus persönlichen Gründen hier. Mich schickt niemand.«
»Aber es muss doch eine Erklärung geben«, blieb Andi hartnäckig.
Der Arzt schaute uns traurig an. Er wusste offensichtlich nicht, was er sagen sollte. Ja, was sagte man zu einer 20-Jährigen, die vielleicht nie mehr würde gehen können? So sah es im Moment nämlich aus. Mein Zustand hatte sich nicht im Geringsten gebessert.
»Also?«, fragte Andi herausfordernd. Sein Gesicht war nicht mehr rosa, sondern rot.
»Ich weiß nicht, was ich Ihnen noch sagen soll, ich weiß es einfach nicht. Ich habe das Ergebnis der Untersuchungen des entfernten Gewebes dabei. Ich werde es Ihrem behandelnden Arzt übergeben. Ich wollte das nicht mit der Post schicken.« Er räusperte sich erneut und zog ein Kuvert aus einer weinroten Ledermappe. »Es handelt sich um ein Chondrom, einen gutartigen Tumor, der Knorpelgewebe bildet.«
»Aha«, machte Andi.
»Ja, und ein Chondrom«, der Arzt sprach nun schneller, da er sich auf sicherem Terrain befand, »kommt unter den gutartigen knorpelbildenden Tumoren auch recht häufig vor. Übrigens tritt das gehäuft in der zweiten bis vierten Lebensdekade auf. Männer und Frauen sind gleichermaßen betroffen. Tja und … also ein Chondrom wächst sehr langsam.«
»Was wäre denn passiert, wenn meine Freundin die Operation nicht hätte machen lassen?«, fragte Andi. »Hätte sie damit leben können, oder wäre das Ding irgendwann gefährlich geworden?«
Der Arzt schaute ihn offen an. »Sie hätte wahrscheinlich gut damit leben können. Es ist ja außen um die Wirbelsäule gewachsen.«
»Ich hätte gut damit leben können?«, fragte ich betroffen.
»Ich kann Ihnen keine Prognose stellen, wie lange.«
»Und wenn Sie schätzen?«, fragte ich leise.
»Vielleicht hätten Sie bis 40 keine Einschränkungen gespürt.«
»Bis 40!« Andi sprang hoch. Sein Stuhl fiel polternd auf den Boden, und wir starrten alle drei darauf, als erwarteten wir, dass er von selbst wieder aufstehen würde.
»Ein Chondrom wächst wie gesagt nun mal sehr langsam«, sagte der Arzt schließlich. »Das ist so.«
»Bis 40«,
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