Das Glück geht nicht zu Fuß: Wie mein Leben ins Rollen kam (German Edition)
schließlich den Rollstuhl wieder einladen müssen. Das kostete mich nun dank Ladeboy zwar keine Kraft mehr, aber es kostete Zeit, und die war morgens Mangelware.
Nach Schulschluss um 13 Uhr kaufte ich entweder ein und holte danach Tim ab oder fuhr vorher nach Hause und erledigte dort, was anstand. Bis ich Tim ins Bett brachte, spielten wir miteinander. Bei schönem Wetter waren wir viel draußen und auf dem Spielplatz, wir trafen uns mit anderen Kindern und Müttern. Sobald Tim schlief, wollte ich lernen. Manchmal schlief ich allerdings neben ihm ein.
Mein Banknachbar in der Schule half mir gelegentlich, wenn es um den Transport von schweren Gegenständen ging. Er kaufte auch Getränke für mich ein und betankte einmal mein Auto. Meistens tanke ich an derselben Tankstelle und rufe dort vorher kurz an, damit jemand meinen Wagen befüllt. Die Bordsteinkante zu den Zapfsäulen ist zu hoch für mich, und wenn ich Hilfe brauche, ist oft niemand da. Wenn ich keine brauche, wird mir hingegen gern Hilfe angeboten. Das nervt mich manchmal, denn ich melde mich lieber selbst. Es ist mir jedoch bewusst, dass diese Angebote lieb gemeint sind, und deshalb antworte ich immer freundlich, sogar bei schlechter Laune.
Häufig werde ich angesprochen, sobald ich den Rollstuhl aus dem Auto oder ins Auto lade. Manche Menschen gehen am Auto vorbei, dann macht es in deren Köpfen »Ratatata!«, das kann ich fast hören, und da stehen sie schon vor mir und fragen: »Kann ich Ihnen helfen?«
Andere bauen sich wie aus dem Nichts vor mir auf, keine Ahnung, wie sie mich finden. Es gibt auch solche, die vor Hilfsbereitschaft schier platzen und dazu neigen, die Dinge, die ich ihnen gar nicht überlassen möchte, an sich zu reißen. Wieder andere kämen gar nicht auf die Idee, mir Hilfe anzubieten. Damit haben sie auch recht, denn ich sage Bescheid, wenn ich Hilfe brauche. Dennoch ist es manchmal rührend zu sehen, wie viel freundliche Aufmerksamkeit mir entgegengebracht wird. Manche bleiben auch bewundernd vor dem Ladeboy stehen. »Das ist ja unglaublich! Toll, was es alles gibt.«
»Ja, da bin ich sehr froh.«
Früher, als ich ohne Ladeboy unterwegs war, habe ich mir manchmal beim Einladen helfen lassen. Meistens war ich allein jedoch schneller. Von all den Menschen, die mich als Rollstuhlfahrerin ansprechen oder angestrengt ignorieren, finde ich diejenigen witzig, die erst vorbeirennen und dann zurückkommen und ihre Hilfe anbieten. Ich glaube, solche Charaktere parken keine Behindertenplätze zu. Die denken, ehe sie handeln. Es freut mich, dass es Menschen gibt, die auf andere schauen. Ich weiß nicht, welcher Typ von Fußgängerin ich wäre. Würde ich meine Hilfe anbieten? Das liegt wahrscheinlich auch an der Tagesform.
Ich war selbst überrascht, wie gut ich mit meinem Alltag zurechtkam – und auch mit meiner Freizeit. Nun ja, Freizeit ist übertrieben. Mehr als zehn Minuten blieben pro Tag nicht übrig, wenn überhaupt. Selten schaute ich fern und genoss es, Herrin über die Programme zu sein. Hin und wieder gab es Stunden, in denen ich mich auch mal einsam fühlte. Doch die waren rar gesät, denn ich hatte ja Tim und außerdem keine Zeit für Sentimentalität. Bevor ich darin versank, lernte ich lieber. Zum Glück gestaltete sich das nicht so aufwendig, wie ich befürchtet hatte. Sicher hätte ich jeden Tag lernen sollen, doch ich kam prima damit zurecht, am Wochenende und vor Prüfungen zu lernen. Im Unterricht passte ich gut auf, diese Strategie hatte ich schon in der Schule genutzt.
Es war mir wichtig, einen guten Kontakt mit Markus zu halten, schließlich ist er Tims Vater. Wir verabredeten, dass Tim jedes zweite Wochenende mit Markus verbringen sollte, allerdings sollte Tim nicht bei ihm übernachten. Das hätte ihn vielleicht durcheinandergebracht. Markus holte Tim Samstagmorgen, brachte ihn Samstagabend, holte ihn Sonntagmorgen und brachte ihn Sonntagabend. Vor dem ersten dieser Wochenenden hatte ich panische Angst. Ich wollte Tim bei mir behalten. Ich wusste, dass das idiotisch war, doch ich konnte kaum etwas dagegen tun, so oft ich mir auch vorsagte: »Er ist der Vater. Das ist sein Recht. Es ist gut so. Ein Kind braucht seinen Vater.«
Meinem Herz war es egal, was Pädagogen meinen, ich wollte mein Allerliebstes nicht hergeben. Ich heulte so viel an diesem ersten Wochenende ohne Tim, dass ich mir am Nachmittag kalte Kompressen auf die Augen legte – sonst würde Markus sich noch geschmeichelt fühlen, und das war
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