DAS GLÜCK IM AUGENWINKEL: Roman (German Edition)
versuchte, hinter einer farblosen Strickjacke und aschgrauem Haar Indizien für ihre Vergangenheit zu erkennen, für eine Karriere in fragwürdigen Bars.
Lächelnd nahm sie Notiz von seiner Irritation. "Wenn Sie nur halb so viel Anstand besitzen, wie ich Ihnen zuschreibe, mein Junge, würden Sie sich ein wenig mehr bemühen, Ihre Überraschung zu verbergen."
"Ich." Simon stammelte. "Tut mir leid, es fällt mir nur einfach schwer zu glauben, dass Sie früher ... ich meine, Sie sind so ... so völlig anders, als man sich die Tänzerin einer Bar vorstellen würde. So kultiviert, so bodenständig. Die Vernunft in Person."
"Und all diese Eigenschaften trauen Sie einer Tänzerin nicht zu?"
"So war das nicht gemeint."
"Ich war eine mittellose Studentin", fuhr sie fort. "Und ich habe das Geld gebraucht. Was keine Entschuldigung sein soll, lediglich eine Erklärung. Denn glauben Sie mir, an kaum eine Zeit erinnere ich mich lieber als an diese Jahre. Und natürlich an die Begegnung mit Hans, die unter anderen Umständen niemals stattgefunden hätte."
Simon nickte. Langsam fügten sich die Puzzleteile, die sich strukturlos in seinem Kopf getummelt hatten, zu dem Bild einer Frau zusammen, die weit mehr war als die fürsorgliche Nachbarin mit dem Faible für Lammbraten und Kirschsuppe.
"Er war die Liebe ihres Lebens, nicht wahr?"
"Das war er nicht. Das ist er. Bis heute."
Sie stand auf, griff nach dem Holzlöffel auf der Arbeitsplatte und begann erneut, in der brodelnden Flüssigkeit zu rühren.
Schweigend schaute er ihr zu. Diese Frau schien mit sich im Reinen zu sein. Trotz des schrecklichen Schicksalsschlags, der ihr die Liebe ihres Lebens genommen hatte, war keinerlei Verbitterung in ihrem Wesen zu erkennen. Nur Vertrauen in das Schicksal und Dankbarkeit, ein kleiner Teil eines großen Ganzen sein zu dürfen. Und für den Hauch eines Moments wurde er sich der Tatsache bewusst, dass auch er Teil eines großen Ganzen war. Auch sein Leben würde weitergehen, ganz gleich, welche Ereignisse es aus den ursprünglichen Bahnen gerissen hatten.
Alles, ausnahmslos alles, hatte seinen Grund.
*
Frustriert ließ er den Kopf hängen, während der Bildschirm vor seinen müden Augen blasser wurde. Trotz aller Recherche hatte er keine einzige Buchkette ausfindig machen können, deren Geschäftsführer den Nachnamen Volkmann trug. War dieser Herr Volkmann, den Nita in ihren Briefen erwähnt hatte, womöglich gar nicht ihr Chef, sondern nur ein einfacher Vorgesetzter, der ebenfalls anderen Leitern unterstellt war? Und wenn ja, wie sollte er Nita ohne weitere Details ausfindig machen? Weiterhin in zielloser Blauäugigkeit alle Buchläden abklappern, wie er es in den letzten Tagen getan hatte, nur um sich unter den irritierten Blicken der Angestellten wie ein kurioser Stalker vorzukommen? Nein, eine Nita arbeitet hier nicht.
Das Vibrieren seines Handys riss seinen Gedankenfaden ab. Rico.
"Hallo?"
"Hey, altes Haus. Wie sieht's aus? Lust auf ein Bier und ein paar Runden Billard?"
"Ich weiß nicht. Ich sitze gerade an einem sehr wichtigen Kapitel, und außerdem habe ich noch einige Anrufe zu erledigen."
"Abends um Sieben? Was für Telefonate sollen das bitte sein? Komm schon, Alter. Gib dir ?nen Ruck. Die Arbeit läuft dir nicht weg. Der Billardtisch allerdings droht langsam einzustauben."
"Es ist wirklich sehr nett, dass du mich ablenken willst, aber -"
"Na los, Simon. Wie in alten Zeiten. Du, der Tisch und ich. Laura habe ich den Zutritt in den Keller für heute Abend untersagt. Wir können uns also völlig zügellos den männlichen Nichtigkeiten hingeben."
Simon starrte auf den deprimierenden Bildschirm vor sich. Hier kam er tatsächlich nicht weiter. Und vielleicht würde ihn ein unverfänglicher Abend am Billardtisch tatsächlich auf andere Gedanken bringen.
"Also gut. In einer halben Stunde bin ich da."
*
"Gestern, kurz nachdem du weg warst, hat ein Mann nach dir gefragt."
"Ein Mann?" Nita zog den Schal vom Hals und stopfte ihn in den Ärmel ihres Mantels. "Wie war sein Name?"
"Keine Ahnung", antwortete Janine, während sie die Leiter vom Bücherregal zog und langsam wieder zusammenschob. "Seinen Namen hat er nicht genannt."
"Hat er gesagt, was er wollte?"
"Nein, er fragte nur, ob hier eine Nita arbeitet."
"Und was hast du gesagt?"
"Nein natürlich."
"Sehr gut."
Nita schätzte die Abgestumpftheit ihrer Kollegin in Bezug auf lästige Kerle. Mehrmals schon hatten Kunden versucht, über die gemeinsame
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