Das Glück in glücksfernen Zeiten
Bechtle, die Chefin, sieht mich und winkt mir nach, ich bin gerührt und winke zurück. Die Frauen in ihren spießigen Sparkassen-Kostümchen gefallen mir außerhalb des Hotels viel besser als innerhalb. Ich höre, wie eine Frau zu einer anderen sagt, sie hätte einen viel zu kleinen Mund. Zu klein wofür? will ich fragen, aber ich kann mich gerade noch beherrschen.
Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012
FÜNF
Heute abend gehen Traudel und ich ins Theater. Wir sehen uns das Stück »Eines langen Tages Reise in die Nacht« des amerikanischen Autors Eugene O’Neill an. Traudel freut sich schon seit Tagen, meine Erwartungen sind eher gedämpft. Traudel schätzt die robusten Familienstücke amerikanischer Dramatiker (wie etwa Tennessee Williams, Arthur Miller, Edward Albee) erst seit wenigen Jahren, während ich mich schon in meiner Jugend an ihnen sattgesehen habe. Das Stück von O’Neill habe ich als Student, als ich Mitte Zwanzig war, schon einmal angeschaut. Es geht (vereinfacht gesprochen) in diesen Texten eigentlich immer um dasselbe: Ein Vater, ein Ehemann oder ein Sohn kommt durch zuviel Alkohol, zu viele Frauen oder zuviel Mißerfolg vom rechten Weg ab und stürzt mitsamt seiner Familie ins Unglück. Dennoch freue ich mich auf den Abend, ein bißchen auch deswegen, weil wir gegen unseren Willen fast theaterentwöhnt sind und weil Traudel und ich endlich mal wieder einen außerordentlichen Abend miteinander verbringen.
Nach dem Theater wollen wir essen gehen und haben dafür in einem sogenannten besseren Lokal einen Tisch reserviert. Gerade habe ich an der Abendkasse unsere vorbestellten Karten abgeholt. Traudel muß sich leider bis zur letzten Minute ihres Arbeitstages in ihrer Sparkasse abarbeiten. Wenn es unterwegs keine Staus gibt, wird sie gegen 19.30 Uhr im Foyer des Theaters eintreffen. Die Aufführung beginnt um 20.00 Uhr, jetzt ist es 18.30 Uhr. Ich überlege, ob ich dasProgrammheft vorher lesen oder ob ich in der Theaterbar vorab ein Glas Wein trinken soll. Aber Theater-Programmhefte kann ich eigentlich nicht mehr lesen. Die Artikel in diesen Heften kenne ich schon so lange wie die Stücke, von denen wir heute Abend eines sehen werden. Ich schaue kurz in die Theaterbar und kehre wieder um. An der langen Theke sitzen erkennbar kleinbürgerliche Damen und Herren in festlicher Kleidung. Auch Traudel wird in gehobener Garderobe erscheinen. Sie wird nach Büroschluß nach Hause fahren und sich umziehen. Es ist mir verboten, mich über Traudels Abendgarderobe lustig zu machen, und es ist Traudel verboten, sich über meine Alltagskluft zu mokieren. Das ist unsere Vereinbarung, mit der wir gut über die Runden kommen.
In einer der Seitenstraßen rund um das Theater sehe ich ein kleines Mädchen, das seinen Hund kämmt. Der Hund hält still und schaut sich die Spatzen an, die um ihn herumtschilpen. Die Vögel warten auf die kleinen wattigen Fellknäuel, die das Mädchen mit der Hand aus dem Kamm herauszieht und wegwirft. Die Spatzen stürzen sich auf die zottigen Knäuel und fliegen mit ihnen weg, wahrscheinlich werden sie für den Nestbau gebraucht. Ich würde mich gerne ein bißchen hinsetzen, aber es gibt hier keine einzige Bank oder sonst eine Sitzgelegenheit. Das Mädchen merkt, daß mir die allmähliche Verschönerung des Hundes gefällt, und kämmt das Tier für mich noch einmal. Wenn ich ehrlich sein dürfte, wäre die Darbietung des Mädchens ein für mich ausreichendes Abendprogramm. Aber dann, eine halbe Stunde später, sehe ich Traudel und bin hingerissen wie in alten Zeiten. Sie sieht schön aus. Stöße des Verlangens zucken durch mich hindurch, wenn ich sie nur ansehe. Sie trägt ein neues Seidenkleid mit tiefem Ausschnitt und breitem Stoffgürtel, der sich wie eine Schleife vom Rücken her nach vorne über den Leib zieht. Natürlich darf ich nicht sagen, daß ichO’Neills Stück für einen alten Schinken halte. Dann würde Traudel erwidern, daß ich nur meine ebenso alte Negativität zeigen will, und der Abend wäre verdorben, noch ehe er angefangen hätte. Also halte ich den Mund und lasse ein abgestandenes Theaterstück über mich ergehen. Aber dann, im Theater, geschieht eine seltsame Verwandlung. Ich höre den Nörgeleien der Hauptfigur mit wachsendem Interesse zu und erinnere mich dabei an ähnliche Beschwerden meines Vaters. Genau wie die Theaterfigur überwarf er sich mit dem von ihm gewählten Leben. Auch mein Vater wurde nicht damit fertig,
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