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Das Glück in glücksfernen Zeiten

Titel: Das Glück in glücksfernen Zeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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daß er einen Beruf, eine Wohnung, eine Frau und Kinder hatte. Die meisten Männer, glaube ich, verstehen nicht, daß sie eine Familie haben. Das Leiden der Männer fängt damit an, daß sie eine Frau lieben. Dieses Leiden leuchtet ihnen gerade noch ein, weil es ihnen auch Lust und Befriedigung bringt. Später heiraten die Männer die von ihnen geliebte Frau. Das verstehen die Männer auch noch, wenn auch nicht mehr ganz so problemlos. Dann bekommt die Frau zwei oder mehr Kinder. Diese Vorgänge verstehen die Männer nicht mehr. Denn jetzt sitzen sie zu viert oder fünft an einem Tisch und essen zusammen mit mehreren Leuten Abendbrot. Den Mann nennen die Kinder bald ihren Vater, was die Männer befremdet. Jetzt gehen die Männer dazu über, ihre Frau zu beschuldigen und ihre Kinder zu verängstigen. Der Held des Theaterstücks redet und trinkt immer mehr und versteht immer weniger von seiner Familie. Ich schaue und höre ihm zu und erinnere mich genau an die Augenblicke, als mir eines Tages aufging, wie glücklich meine Eltern vor ihrer Heirat gewesen sind. Ich war dreizehn Jahre alt und betrachtete zusammen mit meiner Mutter ältere Familienfotos. Vor ihrer Hochzeit waren meine Eltern zwei lachende junge Leute, die in Bierzelten und Gartenlokalen saßen und sich zukunftsfroh anschauten. Sie folgten wie fastalle der Überschätzung ihrer Kräfte und heirateten und zeugten Kinder. Auf den späteren Fotos hatten meine Eltern beklommene und überforderte Gesichter. Plötzlich, alte Familienbilder betrachtend, ging mir auf, daß meine Eltern ihren Versuch, das Glück (die Genügsamkeit zu zweit) und die neue Unfreiheit (die Ehe) zu vereinbaren, mit einer sich kaum je aufhellenden Trauer bezahlen mußten. In diesen Augenblicken berührt ausgerechnet dieses abgestandene und jetzt doch hervorragende Theaterstück nicht nur das Leben meiner Eltern, sondern auch mein eigenes. Momentweise bin ich überzeugt, daß Traudel nicht nur ein Kind will, sondern mindestens zwei, wahrscheinlich drei. Ich bin froh, daß ich in einem dunklen Raum sitze und nicht sprechen muß. Es ist nichts los, ich sitze mit Traudel in einem Theater, aber es beschleicht mich die Ahnung eines bösartigen Schicksals. Offenkundig hat Traudel das öde Leben als Leiterin einer Sparkassen-Filiale satt und sucht ein neues Glücksgebiet. Sie braucht, um das Leben zurückzugewinnen, ein paar deutliche Geschmacksverstärker, sie braucht Kinder. Zwei Sekunden später durchflutet mich eine mir bis dahin unbekannte Erschrockenheit und kurz danach das Gefühl einer inneren Lähmung. Es müßte jemand erscheinen und mich aus meiner Erschrockenheit herausführen. Aber es kommt wie üblich niemand. Wer soll denn auch kommen? Das Herausführen aus einer Lähmung ist eine dem Menschen unvertraute Geste. Dann und wann schaue ich zu Traudel hinüber. Sie folgt mit weit geöffneten Augen und trockenen Lippen dem Geschehen auf der Bühne. Soeben zeigt sich, daß Jamie, der Sohn des Vaters, sein Geld ebenfalls für Prostituierte und Alkohol ausgibt. Ich bin dankbar, daß kein Mensch der Welt von meiner momentanen Schwäche weiß. Der Schock liegt in der plötzlich eintretenden Gewißheit, daß sich in Traudel und mir das Schicksal meiner Eltern wiederholen wird. Ichmuß es sogar für möglich halten, daß ich mich ebenfalls dem Alkohol zuwende, wenn Traudel von ihrem Glücksfeldzug nicht abläßt. Insofern ist das vor mir ablaufende Theaterstück das aktuellste meines Lebens. Ich empfinde einen heimlichen Genuß an meinen Befürchtungen, was mir nicht recht ist. Natürlich verstehe ich Traudels Lebenslage, auch wenn ihre Absichten einen Mißbrauch meiner Person einschließen. Es ist typisch, daß Traudel nicht mit mir über mein Geschick als Familienvater redet. Der Mensch, dem ein neues Geschick droht, kann nicht zugleich der Mensch sein, mit dem zusammen die neue Lage erörtert wird. Es muß immer so aussehen, als hätte es keine Wahl gegeben. Nur so wird alles, was geschieht, ein Fatum sein können. In meiner Schlichtheit, die zu beteuern ich nicht müde werde, habe ich mir immer vorgestellt, daß zwei Personen, die zusammen ein Kind haben wollen, sich eines schönen Tages zusammensetzen und ihre Glückswünsche gemeinsam klären. Statt dessen ist es jetzt so, daß ich als unpassender Partner in der Unübersichtlichkeit der Liebeshandlungen irgendwie überrumpelt werden muß, weil es anders nicht geht.
    Im Theatersaal wuchert still und heimlich meine melancholische

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