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Das Glück in glücksfernen Zeiten

Titel: Das Glück in glücksfernen Zeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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viele Jobs hatte und fast gescheitert wäre, wenn er nicht eines Tages gemerkt hätte, daß er das Talent eines Dramatikers hatte. Traudel ist entzückt über mein locker serviertes Bildungswissen. Sie hebt ihr Glas, wir prosten uns zu, Traudel lobt mich als Unterhalter und Literaturkenner. Der Ober bringt unsere Menüs, Traudel lächelt sogar ihre Seezungenröllchen an. Wenn ich mich nicht irre, hat Traudel im Augenblick sehr gute Lebensgefühle; sie hat den Eindruck, daß sie mit dem richtigen Mann zusammenlebt, was sie auch schon bezweifelt hat. Zwei kleine Mädchen rennen im Lokal herum und verbreiten den Geruch ihres süßlichen Kinderschweißes. Der Mann am Nebentisch redet über unser aller Freiheit, die es seiner Meinung nach nicht gibt. Jeder weiß doch, wie unmöglich es ist, eine bezahlbare Wohnung zu finden, eine bessere Stelle zu kriegen oder gar die Stadt zu verlassen, sagt der Mann zu seiner Begleiterin. Traudel und ich essen geziemend langsam. Unser wechselweises Aufschauen bedeutet: Derartig anstrengende Freiheitsgespräche wie am Nebentisch brauchen wir nicht. Die beiden Kinder hüpfen wie Ponys, ein Bein immer etwas höher als das andere, so daß für sie selbst der Eindruck springender Pferdchen entsteht. Der Mann am Nebentisch sagt: Wahrscheinlich merken die Menschen nicht, daß unsere Freiheit nur eine Freiheit des Redens und Vorstellens ist, nicht eine des Handelns. Wahrscheinlich empfinde ich das Problem, daß ich dem Mann am Nebentisch innerlich beipflichte, meine Zustimmung aber verheimlichen muß. Denn plötzlich kann ich mich nicht mehr zurückhalten, zu Traudeleinen vollkommen überflüssigen Satz zu sagen: Wenn du erst ein Baby hast, können wir nicht mehr so entspannt in einem Lokal sitzen.
    Traudel ist verwirrt. Sie fragt: Warum sagst du das? Leider kann ich mir nicht Einhalt gebieten, sondern muß mich als Anwalt meiner bedrohten Freiheit aufspielen. Ich weise nur auf gewisse Unverträglichkeiten hin, sage ich blöde. Unverträglichkeiten ... was für Unverträglichkeiten?
    Ja ... also ... das Kind, sage ich.
    Was für ein Kind, sagt Traudel.
    Ich sollte jetzt aufhören oder von unserem nächsten Urlaub reden oder von sonst etwas, aber ich sage: Ist es vielleicht so, daß dir dein Beruf als Filialleiterin ... nicht mehr gefällt?
    Wie kommst du darauf? Im Gegenteil, wahrscheinlich werde ich im nächsten Jahr eine Filiale in der Stadt mit erheblich mehr Personal übernehmen.
    Also du willst deine Stelle nicht aufgeben?
    Warum sollte ich?
    Aber du willst doch gleichzeitig ein Kind, oder?
    Wegen eines Kindes muß eine Frau heute nicht mehr ihr Leben ändern, sagt Traudel.
    Das ist, sage ich, die Propaganda der Frauenzeitschriften. Auf Traudels Gesicht kann ich die Augenblicke eintreten sehen, die ihr momentweise die Sprache verschlagen. Also, sagt sie dann und spricht nicht weiter.
    Ich schweige eine Weile, esse zu schnell, trinke zuviel, atme zu heftig.
    Dann sage ich: Als meine Mutter ehemüde wurde, wollte sie plötzlich ein eigenes Haus mit Garten, und als sie beides nicht bekam, kriegte sie zwei Kinder, meine Schwester und mich.
    Das hast du alles messerscharf analysiert, ja?
    Nein, sage ich, meine Mutter hat es mir einmal erzählt.
    Was habe ich mit deiner Mutter zu tun?
    Du ähnelst ihr in gewisser Weise, sage ich; ich habe Angst davor, daß du deine Lebenspläne änderst, wie meine Mutter, ja.
    Du verdirbst mir doch den Abend, sagt Traudel.
    Ich will mich entschuldigen, aber dafür ist es zu spät. Ähhh, sage ich, es tut mir leid.
    Ich brauche deine Ratschläge nicht, sagt Traudel, du bist unreif.
    Traudel nimmt ihre Handtasche an sich, steht auf und verläßt Tisch und Lokal. Ich bin schon öfter verlassen worden, aber noch nicht in einem Restaurant während des Essens. Ein Gummibaum in der Ecke läßt ein einzelnes Blatt fallen. Ich starre auf Traudels halb aufgegessene Seezungenröllchen und nehme ein paar Schlucke Wein. Die Leute um mich herum sehen mich an. Ja, denke ich, das Schicksal klopft nicht an und fragt nicht, das Schicksal tritt ein. Ich brauche eine Weile, bis ich mir klargemacht habe, daß Traudel bloß nach Hause gehen wird. Dramatisch sieht nur der Abgang aus, die Heimkehr wird normal sein wie immer. In Wahrheit beruhigt mich meine innere Langsamkeit. In der Langsamkeit verarbeite ich, daß ich wenig verstehe und nicht viel Neues kennenlernen möchte. Das Nichtverstehen wird in der Langsamkeit aufbewahrt und die Langsamkeit im Nichtverstehen. Der Mann am

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