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Das Glück in glücksfernen Zeiten

Titel: Das Glück in glücksfernen Zeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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Gebilden nach außen gedrungen ist, allerdings nur an die Adresse meines alten Studienfreundes Dr. Gerd Angermann. Wenn mich die Geschichte in Schwierigkeiten bringen sollte, kann ich sie jederzeit als späten Studentenscherz ausgeben.
    Es geht auf Mittag zu. In der Nähe des Kassenhäuschens des Parkplatz-Aufpassers finde ich meinen Firmenwagen. Ich kämpfe mit den ersten Ermüdungen des Tages und überlege, ob ich nicht gleich in die Firma zurückfahren soll. Ach ja ... die Firma. Dann entschließe ich mich doch zu einem weiteren Hotel-Besuch. Ich weiß nicht, was mich ermüdet hat. Die Unlust, das Gerede, der Alkohol von gestern, die Verwirrung. Das Hotel Rheintraube liegt von hier aus etwa zwölf Kilometer entfernt in Richtung Wiesbaden. Ich sitze entspannt im Auto und habe doch das Gefühl, einen harten Arbeitstag schon hinter mir zu haben. Wieder entdecke ich, daß die Menschen (ich) nur für die erste Hälfte des Tages genugKraft haben. Wenn ich könnte, würde ich das Projekt ›Halbtags leben‹ erfinden. Jeder Mensch sollte das Recht haben, sich in der zweiten Hälfte des Tages von der ersten zu erholen. Ich brauche über diese Utopie nur ein paar Minuten zu phantasieren – und schon erwärmt sich mein Herz. Ich schaue den Autofahrern, die mir auf der Autobahn entgegenkommen, ins Gesicht. Jeder einzelne von ihnen würde mein Projekt befürworten. Das Hotel Rheintraube liegt in Höhe der Autobahn-Abfahrt Wallau. Als ich die Weinstöcke sehe, die sich wie auf Perlenschnüren aufgereiht über die Hügel ziehen, überwältigt mich ein Schreck. Es ist der verspätet eintreffende Schreck darüber, daß Gerd mich als Parkplatz-Wächter verunglimpft hat. Ich wundere mich, daß mich eine solche Allerwelts-Diskriminierung überhaupt noch erreicht. Ich lebe in einer Art ewigem Erschrocken-Sein. Der Dauer-Schreck geht auf mein Auf-alles-gefaßt-sein-Wollen zurück. Ich tue vor mir selber so, als seien alle Schrecken schon eingetreten, als sei ich von allen Schrecken schon erschrocken worden, so daß ich es mir ersparen kann, immer wieder neu auf einen Einzelschreck zu reagieren. Deswegen erschrecke ich eigentlich kaum noch, wenn ich erschreckt werde. Sondern ich merke erst hinterher (wie jetzt wieder), daß mich jemand erschreckt hat. So ist es gekommen, daß ich in einer Abfolge auftauchender und absinkender Schrecken lebe. Zudem habe ich festgestellt, daß sich die persönlichen Schrecken untereinander stark ähneln. Ihr Inhalt besteht fast immer aus einer Herabsetzung. Ihre Ähnlichkeit hat außerdem den Vorteil, daß sie schnell verpuffen. So ist es auch jetzt wieder. Der Schreck über Gerds Bemerkung klingt schon wieder ab.
    Das Foyer des Hotels Rheintraube ist groß und hell. Die Tagesgäste sind schon verschwunden, dennoch wimmelt es im Empfangsraum von jungen Herren in dunklen Anzügen und Damen in schwarzen Kostümen und weißen Blusen. Aufder linken Seite des Foyers zieht sich ein großes Buffet entlang. Ich habe den falschen Tag erwischt, es findet hier eine Art Tagung statt. An den rot-weiß-rot gestreiften Prospektmappen der Teilnehmer ist zu sehen, daß die Tagung etwas mit Österreich zu tun hat. Eine freundlich-kugelige Frau in mittleren Jahren kommt auf mich zu und fragt, ob ich noch zu den Reisebüro-Fachleuten gehöre.
    Nein, antworte ich und sage meinen Spruch auf.
    Und ich habe Glück. Frau Bechtle, die Hotel-Chefin, kommt zufällig vorbei und redet sofort auf mich ein. Sie ist unzufrieden mit ihrer bisherigen Wäscherei. Es werden immer wieder Wäschestücke vertauscht und der Service ist unzuverlässig, sagt sie. Frau Bechtle geht mit mir hinter die Rezeption und bietet mir einen Platz an. Frau Bechtle redet darüber, wie oft sie schon Bettwäsche von anderen Hotels in ihrer Wäsche gefunden hat und wie sinnlos es ist, sich bei den Wäschereien zu beschweren, ja, die Wäschereien stellen sich tot gegenüber solchen Reklamationen, sie tun so, als sei man im Kopf nicht mehr ganz gesund, verstehen Sie, ich habe die Nase voll, ich hoffe, Sie stellen sich nicht tot.
    Wir lachen über Frau Bechtles letzten Satz, was mir ein wenig nahegeht, weil ich weiß, wie oft ich mich totstelle, um durch das Leben zu kommen, ja, ich könnte sogar behaupten, daß das Sich-tot-Stellen eine meiner Hauptlebenstechniken ist. Natürlich sage ich davon kein Sterbenswörtchen, auch nicht im Scherz, sondern verbreite unser Angebot, das Frau Bechtle zusagt. Wir verabreden einen ersten Abholungstermin für nächste Woche,

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