Das Glück in glücksfernen Zeiten
danach ist der sachliche Teil unserer Unterhaltung beendet. Ich bedanke mich vielleicht etwas überschwenglich und versichere, Frau Bechtle werde nicht enttäuscht sein etc. In diesen Augenblicken öffnen sich zwei Flügeltüren zu einem größeren Saal, aus dem etwa hundertfünfzig zufrieden gestimmte Damen und Herren herausströmen.Es sind Chefs und Abteilungsleiter von Reisebüros, die vom Österreichischen Tourismus-Verband auf das Urlaubsland Österreich eingestimmt werden (weiß ich von Frau Bechtle). Die Damen und Herren sind mit ledernen Schreibgarnituren beschenkt worden, außerdem mit riesigen, himmelblauen Tüten voller Prospekte über österreichische Urlaubsorte. Die Leute verteilen sich um das Buffet und um ein paar Bedienungen, die mit Sekt und Orangensaft aus den Türen der Service-Station herausdrängen. Ich reihe mich ein in die gutgelaunte Schlange vor dem Buffet, das sich, wie ich jetzt lese, TIROLER BAUERNSTANDL nennt und bei den Reisebüro-Leuten sehr gut ankommt. Es gibt schönes helles Bauernbrot, Sennkäse aus Alpenmilch, Bierkäse, Tiroler Bergschinken, Tiroler Ziegenkäse und Tiroler Gurken. Ich betrachte das weiße Gesicht einer ganz jungen Reisebüro-Fachfrau, die sich ihre Schreibgarnitur verliebt gegen die linke Wange drückt. Unter ihrer dünnen Bluse schimmern ihre weißen Schultern hervor, die mich an Traudels weiße Schultern erinnern.
Niemand fragt mich, niemand will etwas von mir, ich kaue an einer halben Scheibe Bauernbrot und einem Stück Tiroler Schinken und freue mich auf das kommende Wochenende. Traudel und ich werden lange im Bett liegen und überlegen, ob wir ein Stadtfest besuchen, an einem Grillabend von Traudels Kollegen teilnehmen oder ob wir uns einen arabischen Bauchtanzabend in einem jordanischen Lokal anschauen sollen. Wir könnten auch endlich einen Nachtspaziergang am mondbeschienenen Mainufer machen oder uns einen selten gezeigten amerikanischen Krimi in einem Kunstkino ansehen. Wahrscheinlich wird nichts von alldem geschehen. Traudel wird mir von ihrer Kindheit erzählen, ich werde dicht neben ihr liegen und zuhören und ihren Busen betrachten. Jahrelang habe ich geglaubt, es geschieht nichtsbeim Anschauen von Traudels Busen. Es findet keine aktuelle Verlockung mehr statt, keinerlei Unmittelbarkeit durch körperliche Reize, dazu kenne ich Traudels Busen schon viel zu lange. Es geschieht etwas viel Fundamentaleres: die sich immer noch steigernde Verfestigung einer Zugehörigkeit. Traudels Busen und ich, wir gehören zusammen. Und das nur durch die Mysterien des jahrelangen Betrachtens! Ich stelle mir dann so sinnlose Fragen wie die, ob ich Traudels Brüste mehr schätze, wenn sie bukettartig in einem Ausschnitt verpackt sind, so ähnlich wie bei einem bayerischen Dirndl, oder wenn sie sich im Bett frei präsentieren und hin- und herkullern durch Traudels Bewegungen. Als meinen Wohnort könnte ich eigentlich angeben: Ich bin Untermieter bei Traudels Busen. Allmählich verlaufen sich die Tagungsteilnehmer nach dahin und dorthin. Viele haben ihre himmelblauen Tüten einfach weggeworfen oder irgendwo stehenlassen. Ich nehme eine der Tüten an mich und überlege, ob ich einen ganzen Tiroler Schinken mitgehen lassen soll, für die schweren Zeiten, die sicher kommen werden. Ich trete ein wenig zur Seite, um mich zwei Minuten lang zu besinnen. Ich weiß nicht, warum mich zuweilen die Angst vor einer zukünftigen Armut innerlich durchschüttelt. Die Tage dauern entschieden zu lang. Der Mensch erlebt in den zerdehnten Stunden zu viele unnütze Gespenstereien. Erneut fällt mir mein Projekt ›Halbtags leben‹ ein. Wenn dieses Projekt bereits Wirklichkeit wäre, könnte ich mich jetzt zurückziehen und auf die törichten Einfälle des Vormittags zurückblicken. So aber muß ich einen gefährlichen Plan in mir niederknüppeln und mit schinkenzarten Worten zu mir sagen: Niemals hast du einen ganzen Tiroler Schinken wirklich haben wollen. Das Buffet wird leerer und leerer. Ich trete vor den langen Tisch und betrachte die diversen Tiroler Schinken zum Glück ohne jede Begehrlichkeit. Ich erinnere mich an meinenKinderwunsch, daß ich als Hase durch das Leben habe hoppeln wollen, ohne jemals von irgend jemand angesprochen zu werden. Kommen mir gleich die Tränen? Etwas von der Feinheit, die ich zum Leben brauche, finde ich nur in meiner Melancholie. Eine weitere Minute bleibe ich vor dem Buffet stehen, dann verlasse ich das Hotel, ohne Schinken, ohne Tüte, ohne Tränen. Frau
Weitere Kostenlose Bücher