Das Glück in glücksfernen Zeiten
leise und unscheinbar. Ich betrachte einen Mann, der den Kofferraum eines Autos öffnet und diesem zuerst einen Laib Brot und ein Messer entnimmt. Danach Butter, Wurst, Käse und eine Tomate. Der Mann ißt im Stehen und bei geöffnetem Kofferraum. Aus dem Wageninneren holt er einen Aktenordner,schlägt ihn auf und beugt sich kauend über die weißen Seiten. Leider ißt der Mann sehr schnell. Ein Doppelbrot hat er schon vertilgt; jetzt kommt die Tomate dran, die er mit drei Bissen verschwinden läßt. Mein Bedürfnis nach Ablenkung ist erheblich. Ich blicke mich um, aber es gibt hier so gut wie nichts, wobei ich längere Zeit zuschauen könnte. Immer mehr Menschen spucken nicht mehr, wie früher, auf die Straße, sondern in die Papierkörbe. Das ist fast schon alles, was sich hier ereignet. Der essende Autofahrer verstaut Lebensmittel und Aktenordner im Wagen und fährt davon. Mir schießen ein paar Tränen in die Augen. Es sind wahrscheinlich Glückstränen, weil ich als normaler Mensch in die normale Welt zurückkehren darf. Man kann auf einem größeren Parkplatz ohne weiteres ein bißchen weinen; es fällt niemandem auf, und es ist ein Wohlgefühl, daß niemandem etwas auffällt. Ich denke den Satz: Der Sommer zog durch die Lande und goß sein üppiges Licht über Blumen und Gräser. Ein Satz wie aus einem alten Schulaufsatz! Ein Eisengeländer zieht sich um einen Treppenabgang herum. Am Eingangsgitter hängt ein Schild mit der Aufschrift: Kosten für Fehlalarm trägt der Verursacher. Mehrmals am Tag (jetzt wieder) will ich mich entschuldigen, daß ich einsam bin. Dabei bin ich nicht wirklich einsam, noch empfinde ich deswegen Schuld. Es ist vielleicht nicht in Ordnung, daß mir das Alleinsein zunehmend gefällt. Dabei sind doch alle allein, sogar die Dinge ringsum sind allein, am meisten allein sind die Tiere, die in den geparkten Autos eingesperrt sind. Da kommt auf den Treppen, an denen ich gerade vorübergegangen bin, mein ehemaliger Studienkollege Gerd Angermann, Dr. Gerd Angermann, empor. Er erkennt mich sofort, ich ihn ebenfalls. Vor ein paar Jahren waren wir einmal fast Freunde. Er dreht sich um, ich wende mich ihm zu, wir lachen und freuen uns und schütteln uns die Hände.
Bist du inzwischen Parkplatz-Wächter geworden! ruft er aus.
Das ist eine unfreundliche Begrüßung, die mich momentweise aus der Fassung bringt. Ich wollte reden, aber jetzt bin ich stumm. Gerd ist um die Schultern herum ein bißchen verwachsen (die linke Schulter ist deutlich stärker und buckliger als die rechte), aber sein Gesicht ist hell und freundlich und aufmunternd.
Ich habe nicht viel Zeit, sagt er, ich muß meine Frau abholen, die kommt von einem Studienaufenthalt aus Brasilien zurück.
Oh! mache ich, es soll bewundernd und ein wenig neidisch klingen.
Was machst du? fragt er.
Schamhaft gestehe ich, daß ich noch immer bei der Großwäscherei Eigendorff arbeite (was er weiß), wenn auch seit ein paar Jahren als Geschäftsführer. Gerd lacht. Er hat zuerst über Wittgenstein promovieren wollen, sich dann aber doch für Nietzsche entschieden. ›Die Pädagogik des Selbst bei Nietzsche‹ heißt seine Arbeit, ich habe sie damals gelesen.
Ich bin inzwischen Medienbeauftragter der Hessischen Volkshochschulen, sagt Gerd, ich bin viel unterwegs und halte oberschlaue Vorträge.
Ich gründe demnächst eine Schule der Besänftigung, sage ich, ein Abendschule, die endlich das lehrt, was viele Menschen wissen wollen.
Oh! macht Gerd, das hört sich gut an.
Das finde ich auch, sage ich, die Resonanz ist gut. Wann solls denn losgehen? fragt Gerd.
Vermutlich Anfang nächsten Jahres, antworte ich so routiniert wie unerschrocken, es kommt ein bißchen darauf an, wie schnell ich Räume kriege und ob mich die Stadt finanziell unterstützt.
Allerhand! stößt Gerd hervor.
Ich merke, daß jetzt auch er beeindruckt ist, ich bin beruhigt.
Ich muß los, sagt Gerd, sonst steht meine Frau allein in der Ankunftshalle herum!
Ich suche übrigens noch Dozenten, willst du nicht mitmachen? frage ich.
Sofort mache ich mit, sagt Gerd und entfernt sich von mir, wendet sich dann noch einmal um.
Ruf mich doch bitte an oder schick mir deine Unterlagen! sagt er und gibt mir seine Karte.
Mach ich! rufe ich ihm hinterher, dann verschwindet er zwischen den Autos.
Ich bin über meine Lügengeschichte nicht einmal besonders irritiert. Ich bin es gewohnt, in meinem Inneren mit eigenartigen Gebilden umzugehen. Neu ist, daß diesmal etwas von diesen
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