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Das Glück in glücksfernen Zeiten

Titel: Das Glück in glücksfernen Zeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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Bäckerei. Ein Sesambrötchen bitte, sage ich. Eine barmherzige Verkäuferin steckt ein Sesambrötchen in eine Tüte und reicht es mir über die Theke. Schon in diesen Augenblicken spüre ich ein Nachlassen des Drucks. Noch in der Bäckerei hole ich das Brötchen aus der Tüte und fange an zu essen. Die Rückkehr der guten Gefühle setzt ein. Ich kann erkennen, daß es weit und breit keinen Sicherheitsdienst gibt und daß ich nicht festgenommen werde. Ich frage mich, warum liefert unser Warmwasserboiler zu Hause im Badezimmer zuweilen erst nach dem dritten Versuch warmes Wasser, manchmal aber schon nach dem ersten Versuch? Ich bin beglückt über die abgründige Banalität der Frage. Sie hätte zu keinem günstigeren Zeitpunkt eintreffen können. Zum Dank schicke ich eine zweite Frage hinterher: Warum beharrt unser Warmwasserboiler trotz mehrerer (und teurer) Reparaturen auf seiner unverständlichen Launenhaftigkeit? Die Fragen helfen mir, die Angst vor dem Sicherheitsdienst weiter abzudrängen. Dieselbe Aufgabe erfüllen drei Mädchen, die mit ihren Gesichtern so nahe an die Schaufensterscheibe eines Juweliergeschäftes herangehen, daß die Scheibe mit ihrem Atem beschlägt. Die Mädchen gehen weiter, der Abdruck ihres Ausatmens bleibt in Form dreier grauer Flecke auf der Scheibe zurück. Wenig später tritt eine elegante Verkäuferin aus dem Juweliergeschäft heraus und wischt die Flecken mit einem Lappen weg. Ich bin völlig sicher, daß ich soeben Kontakt mit meiner Verrücktheit hatte. Sie hat sich momentweise als Sicherheitsdienst maskiert und mich mit meiner Festnahme geängstigt. Ich vermute, daß ich ein wenig krank bin, aber ich weiß nicht, wo ich meine Störung suchen soll. Ich rede nicht über meine vermutliche Erkrankung, auch nicht mit Traudel. Es hat keinenSinn, über Krankheiten zu sprechen. Man ist mit ihnen allein und man bleibt mit ihnen allein. Zu meinen wichtigsten Lebenserfahrungen – scheußlich, schon jetzt habe ich Lebenserfahrungen! Aber zu meinen wichtigsten Lebenserfahrungen gehört, daß sich fast alle Sorgen, die ich mir irgendwann einmal gemacht habe, früher oder später als überflüssig oder gegenstandslos entpuppt haben. Ich fühle mich dadurch vom Leben gefoppt. Eine Zeitlang habe ich versucht, neu eintreffenden Sorgen meine Lebenserfahrung entgegenzuschleudern: Haut ab, ordinäres Gelumpe, ich weiß, daß ihr unnütz seid! Es hat nicht geklappt beziehungsweise mein Schimpfen war zwecklos. Ich mußte mich weiter sorgen, ob ich wollte oder nicht. Nicht weit von hier befindet sich ein kleines Uhrengeschäft, das gerade Pleite macht. Auf die schmale Schaufensterscheibe sind mit knallweißer Farbe die Worte aufgesprüht: GESCHÄFTSAUFGABE! 50% NACHLASS! Ich weiß nicht, warum ich für alles, was scheitert oder im Niedergang begriffen ist, Sympathie empfinde. Ich hoffe, es ist kein schlechtes Zeichen. Wahrscheinlich steckt hinter meiner Sympathie eine verhüllte Liebe zu meinem eigenen Scheitern, die sich nicht offen zu zeigen wagt. Ich bin so erleichtert, daß die Verrücktheit mich wieder verlassen hat, daß ich mir aus Dankbarkeit eine neue Uhr kaufen könnte. Es gibt hier noch Fixoflex-Armbänder, wie sie im abgelaufenen Jahrhundert häufig getragen wurden; sie erzeugen am Handgelenk zartgrüne Ränder. Es sieht aus, als würde unterhalb des Armbands bald Moos wachsen. Der Uhrenhändler ist alt und hat seinen Laden in den letzten beiden Jahren stark vernachlässigt. In den letzten Wochen stellte er sogar sein Fahrrad in den engen Verkaufsraum und wunderte sich, daß überhaupt niemand mehr seinen Laden betrat. Aber ich brauche weder eine neue Mütze noch eine neue Uhr, und solange Traudel nicht sagt, daß ich eine neueUhr benötige, werde ich mir auch keine anschaffen. Mein Sesambrötchen ist aufgegessen. Ich habe nicht die geringste Lust, ins Büro zurückzufahren. Schon kurz nach der Mittagspause interessiert mich gewöhnlich kaum noch etwas. Schon überlege ich, was ich sagen könnte, falls mich Frau Weiss fragt, was ich in der Mittagspause gemacht habe. Mir wird keine Ausrede einfallen, die Frau Weiss verstummen läßt, das weiß ich jetzt schon. Ich werde vielsagend lächeln und schweigen, so daß Frau Weiss vermutlich denken wird, ich hätte mich mit einer anderen Frau getroffen. Einmal hat sie tatsächlich gesagt: Geben Sie zu, Sie haben eine neue Flamme! Ich habe gelächelt beziehungsweise etwas blöde gegrinst. Schon dieses Wort! Eine neue Flamme! Es ist schmerzlich, das

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