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Das Glück in glücksfernen Zeiten

Titel: Das Glück in glücksfernen Zeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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legt den Comic weg. Ich habe mich geirrt. Die Frau sieht an ihrem Sitzkissen vorbei und setzt sich erneut auf den Löffel. Jeden Augenblick wird sie, nehme ich an, etwas Undeutliches in der Nähe ihres Hinterns spüren, dann wird es an diesem Tisch etwas zu lachen geben. Ich irre mich erneut. Die Frau muß doch eine Beeinträchtigung fühlen oder wenigstens ein Unbehagen. Wahrscheinlich denke ich nur wieder zuviel, meine alte Unart. Die Frau fühlt keinerlei Unstimmigkeiten an ihrem Hintern. Sie ist längst wieder über ihre Spaghetti gebeugt und redet mit dem Kind. Der Junge ißt seine Spaghetti ordentlich mit Gabel und Löffel. Obwohl die Frau oft und aus nächster Nähe in den Teller des Kindes schaut, geht ihr nicht auf, daß ihr die Hälfte der Ausrüstung fehlt. Das Glück einer unvordenklichen Beobachtung steigt in mir auf und erwärmt meine Innenwelt. Das heimliche Leben ist das wahrere Leben. Zum ersten Mal überlege ich, ob ich mir für meine Glücksvorlesungen jetzt schon Notizen über beobachtete Glücke machen soll. Aber ich habe im Augenblick weder Papier noch einenStift bei mir. Viele Frauen tragen bunte Kleider und umarmen während des Gehens ihre Männer. Wieder fällt mir meine Mutter ein, die fast nur geblümte und tief ausgeschnittene Kleider trug, ihrem Mann aber untersagte, ihr während des Spazierengehens in den Ausschnitt zu schauen, was ich trotz meines kindlichen Alters als schwer verständliche Härte empfand. Nur mir gewährte Mutter fast schrankenlosen Zugang zu ihrem Busen. Abends, beim Fernsehen, wenn mir die Fadheit des Abends und die Fadheit des eigenen Mundes zu schaffen machte, durfte ich mich mit der Wange gegen ihren Busenansatz lehnen. Ich durfte sogar eine Hand auf ihren Busen legen und dabei einschlafen. Meine Mutter liebte Liebes-, Hochzeits-, Frühlings- und Urlaubsfilme. Am besten war, wenn die Liebe zwischen Mann und Frau während eines schönen Urlaubs einsetzte und dann, alles in einem Film, in wunderbarer Landschaft zur Hochzeit führte. Ich sah oft, wie meine Mutter beim Anblick von Liebesszenen lächelte. Ihre Zufriedenheit gefiel mir so gut, daß ich bald nicht mehr die Filme anschaute, sondern die sonnige Zufriedenheit meiner Mutter während des Filmesehens. Mit der Zeit jedoch erfaßte mich ein Argwohn gegen meine Mutter; sie ging, je älter ich wurde, allmählich dazu über, mich von ihrem Busen wegzudrücken. Ich hatte für diese neuen Verhältnisse keine Erklärung. Später, während des Philosophiestudiums, nannte ich das Lächeln der Mutter (mit Kant) das Naturschöne, das Fernsehen nannte ich (mit Hegel) den Schein des Wirklichen und das Gesäusel der Filmhelden nannte ich (mit Heidegger) das Gerede des Man. Das Hineinstellen der Wirklichkeit in die Ordnung der Wörter war ein neues Glück. Heute muß ich mich (sogar hier auf der Straße) wundern über meine damalige Schlichtheit. In dieser Zeit setzte die Vorstellung ein, ich selbst könnte ein philosophisches Werk verfassen. Es sollte Zaudern und Übermut heißen, Untertitel: Phänomenologie des ... dann wußte ich nicht weiter. Dabei bin ich nur, wie die meisten anderen auch, auf meine eigene Begeisterung hereingefallen. Ich weiß nicht, warum mir jetzt einfällt, daß ich mir eine neue Hose kaufen muß. Traudel hat mir wieder einmal gedroht, sie werde mich verlassen, wenn ich mich weiter so vernachlässige. Ich komme mir nicht vernachlässigt vor. In diesem Punkt ist eine Verständigung mit Traudel wahrscheinlich nicht möglich. Es ist an der Zeit, diese schmerzliche Schwierigkeit klar zu erkennen. Ich komme mir eher bedürfnislos vor – und sogar ausgesöhnt mit der Bedürfnislosigkeit. Der abendliche Blick aus dem Wohnzimmer zu meiner auf dem Balkon hängenden Hose gefällt mir sehr gut. Wobei es mir Probleme macht, genau zu sagen, was mir an diesem Blick gefällt. Es ist das Gefühl, das Vergehen der Zeit sei anschaulich geworden. Manchmal denke ich sogar, es handle sich um das Vergehen meiner Zeit. Dieser Gedanke ist vermutlich ein bißchen verrückt; deswegen traue ich mich nicht, ihn Traudel gegenüber auszusprechen. De facto habe ich, da meine Zweithose auf dem Balkon hängt, nur eine einzige Hose, die ich Tag für Tag trage. Aus Versehen denke ich anstelle des Wortes Zweithose das Wort Zeithose, worüber ich Glück empfinde. Ich und meine Zeithose! Tatsächlich habe ich schon, sozusagen im Schnelldurchlauf, die Hosenabteilungen zweier Kaufhäuser durcheilt. Ich wollte nicht lange überlegen,

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