Das Glück in glücksfernen Zeiten
welche Farbe die Hose haben sollte, ob sie einen Reißverschluß haben sollte oder nicht, ob sie eher eng oder eher weit geschnitten sein sollte. Sondern ich wollte rasch in eine Hosenabteilung eindringen, ein oder zwei Hosen anprobieren, eine davon kaufen und schnell wieder verschwinden. Der Plan ließ sich nicht ausführen, ich weiß nicht warum. Es störten mich schon die hilfesuchenden Gesichter der Verkäuferinnen. Nirgendwo auf der Welt gibt es auf engem Raum so viele bedürftigeFrauen. Deren armselige Gesichter auch noch von morgens bis abends überhell angestrahlt werden. Aber ich muß, um meinen guten Willen zu zeigen, heute abend mit wenigstens einer Neuanschaffung nach Hause kommen. Traudel verlangt von mir auch die Anschaffung einer neuen Mütze. Meine alte Mütze schaut nach wie vor ausreichend gut aus, aber ich muß Traudel willfahren. In einem dritten Kaufhaus fahre ich mit dem Fahrstuhl in den vierten Stock in die verloren erscheinende Mützenabteilung und habe dort einen befreienden und gleichzeitig bedrohlichen Einfall. Ich bin weit und breit der einzige Besucher der Mützenabteilung und vertausche meine alte Mütze gegen eine neue. Das heißt, ich setze mir eine neue Mütze auf und lege meine alte Mütze so in die Reihen der neuen Mützen, daß auch meine alte Mütze aussieht wie eine neue. Ich mache mir noch eine Weile im Mützengebiet zu schaffen, bis ich ganz sicher bin, daß mein Coup unbeobachtet geblieben ist. Da keine Verkäuferin erscheint, nehme ich an, daß ich mich ungeschoren davonmachen kann. Aber mein zu langer Aufenthalt in der Mützenabteilung war (ist) ein Fehler. Er nützt nicht meiner Sicherheit, sondern, im Gegenteil, der Entstehung meiner Unsicherheit. Plötzlich fürchte ich, daß die Leute vom Überwachungs- oder Erkennungsdienst anhand meiner alten, hier zurückgelassenen Mütze meine Identität feststellen können. Ich weiß nicht wie, aber der moderne Beobachterstaat lüftet auch derart lächerliche Geheimnisse. Wahrscheinlich warten die Sicherheitsleute nur darauf, daß ich mit der neuen, unbezahlten Mütze den Fahrstuhl betrete. Dann werden sie mir folgen und mich im Fahrstuhl festnehmen, weil ich dort nicht fliehen und außerdem bequem niedergerungen werden kann. Das Grauen senkt sich in mich hinein und steigt in mir gleich wieder hoch. Oder hebt es sich in mir empor und versinkt gleich wieder in meinem Körper? Es ist leidertypisch für mich, daß ich mich in dieser unangenehmen Situation mit derart überflüssigen Fragen beschäftige. Ich gehe tatsächlich zurück an den Ort der Vertauschung, vergewissere mich, ob mir niemand zuschaut, nehme meine alte Mütze wieder an mich und lege die neue Mütze zurück an die alte Stelle. Unbehelligt erreiche ich den Fahrstuhl, fliehe durch die Parfüm-Abteilung im Erdgeschoß und trete befreit hinaus auf die Straße. Mein Haar hängt büschelweise und schweißnaß unter meiner Mütze hervor. Puppenartig starr, mit halb gelähmten, gerade wieder in Schwung kommenden Gliedern entferne ich mich von dem Kaufhaus. Ich wage nicht, mich umzudrehen. Ich bin nicht völlig sicher, daß mir die Sicherheitsleute des Kaufhauses nicht doch folgen. In einem Meer ichfremder Augenblicke drohe ich unterzugehen. Ich schäme mich und warte darauf, daß ich sofort sterbe. Im Kern meiner Scham haust die spürbare Verkleinerung meines Lebens. Ich schrumpfe innerlich auf die Kindergröße einer verkohlten Leiche. Ich kenne meine Scham und weiß seit langer Zeit, daß sie immer eine Anspielung auf meinen Tod ist. Wenn ich mich genug geschämt habe, werde ich befreit sterben dürfen. Dieser Augenblick scheint mir jetzt gekommen. Obwohl ich gehe, zerfalle ich. Körperteile fallen von mir ab, ich sehe sie zurückbleiben, während ich gehe. Ich bin gespannt, wie lange ich mich auf den Beinen halten kann. Heimlich schaue ich mich schon nach einem Krankenwagen um. Als Zeichen meiner Angst stoße ich einen nur mir verständlichen Rachenlaut aus. Wenn ich jemals von dieser Geschichte sprechen werde, werde ich das Wichtigste wieder verheimlichen müssen: daß ich das Leben nicht ausreichend verstehe. Dann rettet mich der Anblick eines kauenden Kindes. Es ist ein etwa zehnjähriger Junge, der auf einem Betonkübel sitzt und eine Brezel vertilgt. Essende Kinde haben mich immer beruhigt. Der Junge gibt mir mit ein paar Blickeneinen Befehl: Kaufe dir ebenfalls etwas zu essen und setze deinen Körper wieder zusammen. Ich führe den Befehl sofort aus und betrete eine
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