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Das Glück in glücksfernen Zeiten

Titel: Das Glück in glücksfernen Zeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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überhaupt jemals gebaut worden ist. Schon beim Bau hätte jedermann sehen müssen, wie scheußlich das Haus ist und daß es wegen dieser Scheußlichkeit eines Tages wieder verschwinden wird. Ich nähere mich dem Abrißbagger und schaue zusammen mit einigen Rentnern und Kindern den Arbeiten zu. Es sind festliche Augenblicke, wenn die Abrißbirne gegen blank dastehende Zimmerwände schlägt, bis diese zuerst bröckeln und dann in sich zusammensinken. Eine ältere Blumenfrau kommt vorbei und will Rosen verkaufen, aber sie hat kein Glück. Die Frau geht weiter, ich schaue ihr nach und erinnere mich an meine tote Mutter. Als sie ungefähr so alt war wie die Blumenfrau, verkaufte sie Eier an die Hausfrauen der Nachbarschaft. Einmal in der Woche brachte ein Bauer aus dem Odenwald einen Karton mit frischen Eiern vorbei. Es war mir als Kind nicht recht, daß fremde Leute meine Mutter die Eierfrau nannten. Nach einiger Zeit nannte sie sich sogar selbst Eierfrau, was ich nicht verstand. Außer Eiern verkaufte sie später auch Bienenhonig und Bauernbrot. Das Geld, das sie dabei verdiente, schenkte sie mir. Ihre Großzügigkeit hinderte mich, gegen das Wort Eierfrau zu protestieren. Ich war nicht nur gegen das Wort Eierfrau, ich war auch dagegen, daß sie überhaupt Eier verkaufte. Noch sonntagnachmittags im Kino, das ich nur mit Hilfe des von meiner Mutter verdienten Geldes besuchen konnte, war ich im Dunkeln so sehr gegen den Eierhandel meiner Mutter eingestellt, daß ich den Filmen kaum folgen konnte.
    Seit dem Mißerfolg im Hotel Transit erfüllt mich zunehmende Müdigkeit. Eine kleine Erleuchtung sollte mir jetztaufhelfen, aber es ist nichts dergleichen in Sicht. Im Gegenteil, ich gehe in Richtung Innenstadt und sehe seltsam verlorene und in ihrem Elend starrsinnig gewordene Menschen, schamhafte Flaschensammler, niedergekauerte Alkoholiker, umherschweifende Jungfaschisten, gehetzte Prospektverteiler, traurig blickende Pförtner. Ich möchte gute, aufstrebende, meinetwegen einfältige Menschen anschauen, um von meiner inneren Überempfindlichkeit loszukommen. Statt dessen erblicke ich diese angeschlagenen Untergeher, die meine Empfindlichkeit nur aufreizen. Manchmal (jetzt gerade wieder) stelle ich mir vor, ich würde an einer plötzlich hereinbrechenden Überempfindlichkeit sogar sterben. Ein Notarzt würde herbeieilen und könnte nur noch meinen Tod feststellen. Als Todesursache würde er in den Totenschein eintragen: Überempfindlichkeit. Auf diese Todesursache wäre ich sogar als Toter noch stolz. Traudel würde in der Lokalzeitung eine Todesanzeige aufgeben, deren erster Satz lauten würde: Nach langjährig ertragener Überempfindlichkeit starb plötzlich und unerwartet mein Geliebter ... In der Ferne wird der Opernplatz sichtbar, und ich erkenne eine große Zahl Polizeiautos und in Gruppen herumstehende Polizisten. Mir ist nicht klar, warum ich bis heute durch den Anblick von Polizei so tief erschrecke wie früher nur am Tag der Zeugnisausgabe in der Schule. Dabei weiß ich, daß sich die Überpräsenz der Polizei nicht auf mich bezieht, sondern auf vier Großereignisse, die heute in die Stadt eindringen und ihre Zuckungen vorauswerfen: In den Messehallen sammelt sich der Evangelische Kirchentag, im Waldstadion spielt die Frankfurter Eintracht gegen Bayern München, in der Festhalle poltern die Rolling Stones und durch die Straßen stiefelt der Schwarze Block. Sonnige Jungchristen, angetrunkene Fußball-Debile und abstoßende Anarchisten laufen mit gesteigerter Fremdheit aneinander vorbei. Immer mal wiedersieht es so aus, als würde es zwischen den Anhängern der verschiedenen Ereignisse zu Zusammenstößen kommen, aber es sieht nur so aus. Die Polizei wendet (bis jetzt) keine eigene Gewalt an, sondern dämmt vorhandene Gewaltlust zurück. Dadurch wird die Stadt beißend bedrohlich und gleichzeitig duldsam. Traudel und ich haben in der vergangenen Nacht nach längerer Zeit wieder einmal miteinander geschlafen. Tatsächlich löst die Körperlichkeit meines Geschlechts bei mir immer noch Befremden aus. Ich kann kaum hinnehmen, daß ausgerechnet dieses Organ derartig sonderlich ausschaut. Besonders unangenehm ist mir, wenn ich frühmorgens mit einer Erektion aufwache. Weil diese Erektionen zwar an mir und mit mir, aber ohne mein Zutun und ohne meine Absicht und ohne mein Wissen geschehen, nenne ich sie die Ohne-mich-Erektionen. Traudel verschweige ich meine Vorbehalte. Sie denkt nach wie vor, jede einzelne Erektion gelte

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