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Das Glück in glücksfernen Zeiten

Titel: Das Glück in glücksfernen Zeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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ihr und nur ihr. Das heißt, in jüngerer Zeit verdächtigt sie mich, daß ich eigentlich nur noch ihren Busen anschauen wolle. Genaugenommen verstehe ich diesen Vorwurf nicht. Traudel tut ein bißchen so, als sei es zu dürftig, daß sich ein Mann immer wieder und immer noch für die Brüste seiner Gefährtin begeistert. Ohnehin habe ich oft den Eindruck, viele Frauen wissen nicht wirklich, was sie da in doppelter Ausfertigung Tag für Tag mit sich herumtragen. Die tägliche Wiederkehr der körperlichen Tatsachen (das ist meine Vermutung) hat bei diesen Frauen unmerklich zu einer Geringschätzung ihrer Brust geführt. Ich bilde mir ein, daß ich schon als Säugling die Brust meiner Mutter mehr schätzte als meine Mutter selber. Meine Mutter hatte eine unangenehm keifende Stimme, die ich sofort vergessen konnte, sobald ich an ihrem Busen lag. Ich war ungefähr zwei Jahre alt, als für mich feststand: Durch die Brust der Frau tritt die Sanftheit in die Welt. Daran glaube ich bis heute. Am Endelanger zerknirschter Tage freue ich mich immer noch darauf, am Abend oder in der Nacht an Traudels Busen zur Ruhe zu kommen. Ich würde Traudel das gerne einmal sagen, aber ich fürchte, sie würde mir nicht glauben. Es ärgert mich (auch jetzt wieder), daß ich nur aus Einfühlung in Traudels Mißtrauen nicht über ein Behagen spreche, das ich doch allein ihr verdanke. Gerade dann, wenn Traudels Busen flach und irgendwie fast uferlos daliegt, entzückt er mich derart, daß ich plötzlich denke: Du bist wieder zwei Jahre alt und die Brust ist dein himmlischer Sandkasten. Ich habe Traudel gesagt, daß ein Mann einen Frauenbusen ohne das dazugehörige Frauengesicht gar nicht schätzen kann. Der Blick des Mannes wandert vom Busen zum Gesicht und wieder zurück zum Busen und dann wieder hoch zum Gesicht – und immer so weiter. Traudel war, glaube ich, von meiner Erklärung beeindruckt, aber ich sah, daß sie mir nicht völlig glaubte. Dieser Rest von Unglaube, sagte ich, gehört zur Sexualität wie die Geschlechtsteile selber. Diese nicht verschwindende Unwissenheit führt dazu, daß man es immer wieder wissen will. Vorige Nacht drehte Traudel ihren Körper im Halbschlaf zu mir und legte wie ein Kind ein Bein und einen Arm um mich, ohne ganz aufzuwachen. Ich legte meine rechte Hand flach auf Traudels rechte Brust. Traudel stöhnte und wachte allmählich auf. Mit diesen traumartigen Berührungen ist vermutlich kein besonderes Verlangen mehr gemeint; die Körper drücken durch sie nur ihre Erwartung aus, daß wir nach wie vor immer noch etwas voneinander erhoffen dürfen. Das ist vielleicht doch etwas Besonderes, und insofern nehme ich meinen vorigen Gedanken wieder zurück. Obwohl ich durch Traudels Halbumklammerung (unter der Bettdecke) ins Schwitzen geriet, hielt ich still und freute mich über Traudels instinkthafte Anlehnung. Ich kann nicht ausdrücken, im Dunkeln schon gar nicht, wie sehr mir diese halb betäubteKörperlichkeit gefällt. Dann merkte ich, daß Traudels linke Hand zu meinem Geschlecht drängte. Nach weniger als einer Minute steckten wir ineinander. Wir schluchzten zusammen wie zwei alternde Nachtigallen. Ich schob meine Arme unter Traudels Rücken hindurch und zog ihren Körper so fest an mich, wie ich nur konnte. Kurz danach heulten wir und vögelten oder wir vögelten und heulten dazu und kurz danach kicherten wir auch noch, weil alles so unglaublich war und unser Glücksgefühl besonders. Obwohl sie abschreckend wirken sollen, ziehen mich die Polizeipferde an. Die meisten Leute vom Schwarzen Block sind tatsächlich schwarz gekleidet. Das heißt sie tragen schwarze Lederjacken und schwarze Stiefel und schwarze T-Shirts. Sie haben schwarz gefärbtes Haar, die Frauen auch schwarze Lippen und schwarz ausgemalte Augenhöhlen. Einige schwenken schwarze Fahnen in der linken Hand, in der rechten offene Bierflaschen. Jemand schreit herum, niemand hört ihn. Die Anarchisten sind mit Umhergehen beschäftigt. Auch scheinen sich die meisten untereinander nicht zu kennen. Ein ganz junger Anarchist, ein halbes Kind noch, reißt die Folienverpackung von einem Stück Käse herunter und fängt an, Käse zu essen. Im Inneren der Zusammenrottung steht eine Art Pritschenwagen, auf dem eine riesige Musikanlage aufmontiert ist. Ein älterer Mann in Armeehose und Unterhemd ist für die Bedienung der Anlage zuständig. Er ist über den Regler gebeugt und hat die richtige Lautstärke noch nicht gefunden. Es ertönt Punkrock, der die

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