Das Glück in glücksfernen Zeiten
dickliche Anarchistin mit weißer Haut und schönen Augenbrauen erinnert mich an meine wirkliche Mutter. Die Anarchistin trägt einen Plastikbecher in der Hand, auf dem das Wort Buttermilch steht. Auch meine Mutter nahm oft Buttermilch zu sich. Als junger Mann habe ich geglaubt, sie wolle dadurch verhindern, daß sie ihre weiße Haut verliert. In der ganzen Stadt wimmelt es von Erinnerungen an meine tote Mutter. Dieser Tage kam ich an einem billigen Textilmarkt vorbei. Auf einer Kleiderstange flatterten rosarote, halb durchsichtige Nachthemden, von denen auch meine Mutter einige hatte. Zuerst schimpfte ich eine Weile vor mich hin: Hören denn die deutschen Hausfrauen nie damit auf, sich diese entsetzlichen Nachthemden überzuwerfen? Plötzlich durchfuhr mich ein wohliger Schauer, weil für ein paar Sekunden meine Mutter wiederauferstanden war, wenn auch nur als Nachthemd.
Ich leide jetzt kaum noch darunter, daß mich der säumige Hotelier ohne A-Conto-Zahlung weggeschickt hat. Das Gefühl des Versagens (wenn es ein Versagen war) löst sich mehr und mehr auf und wird ein Teil des sich gestaltlos auftürmenden Nachmittags. In sichelartig auseinandergezogenen Formationen fliegen Hunderte von Staren in die umliegenden Bäume ein und fiepen und quietschen in einem fort. Sie sind vermutlich aufgeregt, weil sie sich für ihren Abflug nach irgendwohin in Stimmung bringen. Das Nachmittagslicht wird blaßrosa, untermischt von den mattgelben Strahlen der jetzt schwächlichen Sonne. Eine Anarchistin kratzt einenAnarchisten am Rücken. Ich habe das Empfinden, daß diese Stunde so, wie sie jetzt ist, schön ist und von niemandem schöner gemacht werden kann. Ein Teil der Stare verläßt die Bäume und fliegt weiter in andere Stadtteile. In diesen Augenblicken überquert mein ehemaliger Studienkollege (Dr.) Gerd Angermann den Opernplatz und kommt auf mich zu. Er sieht ein bißchen nackt aus wie jemand, der gerade seine Brille verloren hat.
Störe ich?
Nicht im geringsten, sage ich.
Du siehst so besinnlich aus, sagt er und setzt sich neben mich auf den Bordstein.
Das bin ich auch, antworte ich, obwohl ich gleichzeitig mit ernsten Fragen beschäftigt bin.
Zum Beispiel?
Ich erkläre, daß die Stadtverwaltung mich unterstützt und ich prüfen muß, ob der Schulbetrieb im Frühjahr oder im Herbst des nächsten Jahres anfangen soll.
Klasse, sagt Angermann.
Und ich überlege, ob du nicht doch Lust hast, als Dozent bei mir anzufangen.
Dazu bin ich nicht qualifiziert, sagt Angermann. Erinnerst du dich an eine Vorlesung über das Ende des Subjekts in der Moderne, die wir zusammen besucht haben? Natürlich, sagt Angermann.
Der Professor hat fast eine Stunde lang darüber geredet, daß das Ich zu Ende erklärt ist, ebenfalls seine gesellschaftliche Strangulierung durch Arbeit, Fortpflanzung, Krankheit, Tod. Plötzlich hast du dich zu mir herübergebeugt und hast ungefähr gesagt: Der Professor vergißt, daß es auch das Zurückschrecken vor den Würgegriffen der Verhältnisse gibt, das Beiseitetreten vor der Selbsteintrübung der Welt.
Angermann lacht und schaut mich vergnügt an.
Unglaublich, daß du dir das alles gemerkt hast, sagt er dann.
Deine Einwände haben mich damals beeindruckt, sage ich; und genau darüber könntest du auch heute sprechen. Deine Vorlesung könnte heißen: Die Flucht vor der Selbsteintrübung der Welt.
Angermann lacht vor sich hin.
Du nimmst mich nicht ernst? frage ich.
Natürlich nehme ich dich ernst.
Wir betrachten noch eine Stunde lang die Schönheit der Anarchisten und die Schönheit der sie bewachenden Polizisten. Nach einer weiteren Stunde löst sich die Demonstration langsam auf. Die Polizisten steigen in ihre Einsatzwagen und fahren zurück in ihre Reviere.
Wir können ja bei uns zu Hause weiterreden, schlage ich vor.
Angermann ist einverstanden. Traudel ist, als sie später dazustößt, überrascht und erfreut, daß ich einen Bekannten mit in die Wohnung gebracht habe. Das hatte sie schon öfter angeregt, nur ich war dieser Anregung bis jetzt nicht gefolgt. Sie lädt Angermann zum Abendbrot ein und plaudert genauso munter wie er.
Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012
ACHT
Mit Hilfe einer Aufschlüsselung der Einnahmen kann ich herausfinden, was die Umstellung der Lieferzeit auf einen Tag bis jetzt gebracht hat. Vermutlich ist es für eine Bilanzierung noch zu früh, aber ich bin zuversichtlich. Eigendorff will gute Zahlen hören. Das Problem ist: Es
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