Das Glück in glücksfernen Zeiten
Leute in gute Laune versetzt. Ich fühle in mir meinen alten Vorbehalt gegen die Jugend: Man muß ihr nur die passende Musik vorspielen, schon ist sie begeistert. Ich selbst glaube nicht mehr an die Veränderbarkeit irgendwelcher Verhältnisse. Dafür dauert das, was hätte verändert werden müssen, schon zu lange an. Trotzdem haben meine Wünsche ihre Nichterfüllung überlebt.Eine Bierflasche geht zu Bruch. Viele halten das Geräusch für das Zeichen des Losbrechens. Aber es war nur eine Bierflasche. Durch die Lautstärke der Musik entsteht in mir das Gefühl, nicht weit von hier lauere eine Drohung. Die Polizisten verharren hinter ihren Wasserwerfern und Einsatzwagen. Oder sie sitzen etwas entfernt auf Caféstühlen und warten. Ich empfinde die Lächerlichkeit, im Angesicht der Polizei ein geduldeter Anarchist zu sein. Ein Polizist ißt eine Brezel und beobachtet den Mann auf dem Pritschenwagen, der seine Musikanlage verläßt und ein Café aufsucht. In einiger Entfernung von den Lautsprechern lasse ich mich auf einem Bordstein nieder. Ich beobachte eine Ameise, die den Bordstein in Richtung Straße verläßt und in vollkommener Ahnungslosigkeit die Fahrbahn überquert. Wahrscheinlich ist die Ameise einer der Gründe, warum ich mich plötzlich wohl fühle.
Es ergreift mich die Gewißheit, wenigstens vorübergehend für niemanden erreichbar zu sein. Ein Glücksgefühl überwältigt mich und füllt mir für drei Sekunden ein Auge mit einer kleinen Träne. Sie ist eine metaphysische Bestätigung dafür, daß es richtig ist, sich nach der Mittagspause für fast nichts mehr zu interessieren. Dann und wann taucht Traudel in meiner Innenwelt auf und löst kein Befremden aus. Unruhe entsteht, als eine Großgruppe von Fußballanhängern das Lagergebiet der Anarchisten durchkreuzt. Die Fußballanhänger grölen und heben die Faust, was die Anarchisten aufreizt. Schon umfassen die Polizisten ihre Schlagstöcke und führen Handys zum Mund, aber dann geschieht nichts. Früher habe ich mich geängstigt, wenn ich in Bahnhöfen und Unterführungen das Gebrüll von Fußballfans hörte. Heute weiß ich, daß es sich um das Geschrei von Eingesperrten handelt, die den Widerhall ihrer Gefangenschaft hören wollen. Die Anschmiegung des Zwangs an das Leben geht so zärtlichvor sich, daß weder die Fußballanhänger noch die Anarchisten von dieser Anschmiegung etwas bemerken. Die Fußballfans drängeln auf diverse Rolltreppen und verschwinden in den Tiefgeschossen einiger Kaufhäuser. Die Polizeihunde kämpfen mit den Drahtboxen an ihrem Kopf. Sie schütteln immer wieder ihre Körper, um die Beklemmung am Maul loszuwerden. Einer der Hunde steht in der Nähe eines Café-Stuhls und schlägt mit seinem Schwanzstummel gegen ein Stuhlbein.
Nicht weit von mir bauen ein paar junge Leute eine weitere Musikanlage auf. Wenn die Jugendlichen wüßten, daß ich ihre Musik nicht schätze, würden sie mich vielleicht nicht so freundlich dulden. So aber sitze ich friedlich am Straßenrand und gehöre schon fast zu ihnen. Ich beneide die Anarchisten in gewisser Weise, weil sie ihre Unzugehörigkeit darstellen können. Meine Unzugehörigkeit war immer ganz innerlich und verweigerte jede Darstellung. Vielleicht deswegen erzähle ich im Büro manchmal halb erfundene Schreckensgeschichten. Frau Weiss habe ich erzählt, wie meine Mutter als ganz junges Mädchen während der Bombardements durch die Stadt lief und in ihrer Nähe eine Giftgasbombe niederging und meine Mutter um ein Haar ums Leben gekommen wäre. Es gelang ihr, eine Haustür einzudrücken und die Tür hinter sich zu schließen, so daß das Gas nicht in das Haus eindringen konnte. Plötzlich versagte sich mir die Stimme, und ich war sekundenschnell dem Weinen nahe. Eigenartig, sagte ich und vergaß meine kleine Erzählung. Nein, das stimmt nicht ganz. Es stieg mir eine halbe falsche Träne (meine Geschichte war erfunden) ins Auge, die Frau Weiss erschütterte. Ich ging zu meinem Schreibtisch zurück, schämte mich wegen meiner unnötigen Fälschung, und dann geschah das Unerwartete: Es kam mir eine echte Träne wegen der falschen. Gott sei Dank mußte ich nicht über siesprechen. Wahrscheinlich handelte es sich um den Versuch einer Selbstbeweinung. Ich fühlte mich schwach und verwirrt. Mit geringer Energie fragte ich mich, warum ich manchmal angeberische Geschichten erfand und sie auch noch erzählte. Zum Glück trat etwa eine halbe Stunde lang kein Kollege an meinen Schreibtisch.
Eine
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