Das Glück in glücksfernen Zeiten
gibt in unserer Branche keine wirklich neuen Kunden. Wer den Umsatz steigern will, muß der Konkurrenz die fehlenden Kunden abjagen, und das ist nur möglich mit einem attraktiveren Service, zum Beispiel mit einer Ein-Tag-Lieferfrist. Herr Tischer, ein junger Kollege, kommt neuerdings mit Rucksack ins Büro. Bei ihm sieht das besonders töricht aus, weil er unter dem Rucksack stets einen dunklen, glatten Anzug und ein weißes Hemd trägt. Herr Tischer stellt den Rucksack neben seinem Schreibtisch ab und rührt ihn bis zum Feierabend nicht an. Gegen halb zehn wird Frau Weiss von ihrer Tochter per Handy angerufen. Die Tochter will die Sachen nicht anziehen, die ihr die Mutter über den Stuhl gelegt hat. Frau Weiss zischt die Tochter scharf an und beendet dann das Gespräch. Heute kommen die Putzfrauen schon am frühen Nachmittag, weil sie sonst ihr Pensum nicht schaffen. Frau Kahlert wischt den Schreibtisch ab, an dem ich arbeite. Ich lehne mich zurück und warte. Frau Kahlert ist etwa zwanzig Jahre älter als ich. Ich ahne, daß sie es skandalös findet, daß eine so alte Frau den Schreibtisch eines noch jungen Mannes wischen muß. Ihre Kollegin (ich habe ihren Namen vergessen) redet ins Ungefähre und stopft dabei Büromüll in einen riesigenblauen Plastiksack, den sie hinter sich herzieht. Das Geräusch ihres Sprechens verschwindet im Knittern des Plastiksacks, so daß der Eindruck entsteht, auch ihr Reden sei Abfall. Gegen 15.00 Uhr bestellt mich Eigendorff in sein Büro. Er trägt sein konventionell ernstes Gesicht und bittet mich Platz zu nehmen.
Ich will es kurz machen, sagt er und legt eine Pause ein.
Dann sagt er: Sie sind am Donnerstag zuerst um 14.00 Uhr und dann noch einmal um 16.00 Uhr als Teilnehmer einer Demonstration beobachtet worden. Was Sie in Ihrer Freizeit machen, ist mir natürlich egal. Aber ich kann Sie nicht dafür bezahlen, daß Sie Ihre Arbeitszeit bei irgendwelchen Kundgebungen verbringen.
Ich will etwas sagen, aber er schneidet mir das Wort ab. Darüber müssen wir nicht diskutieren, sagt er.
Eigendorff wartet ein paar Sekunden. Ich will jetzt tatsächlich nichts sagen und starre auf den gläsernen Briefbeschwerer auf Eigendorffs Schreibtisch.
Dann sagt er: Sie müssen morgen nicht mehr zur Arbeit erscheinen. Sie sind hiermit fristlos entlassen. Wenn Sie wollen, können Sie gleich gehen. Meine Sekretärin schickt Ihnen die Papiere nach Hause. Für Ihren Lebensweg wünsche ich Ihnen alles Gute.
Mehr sagt Eigendorff nicht. Ich erhebe mich, verlasse ohne ein Wort das Büro und begebe mich an meinen Platz. Ich überlege tatsächlich, ob ich sofort gehen oder ob ich den Feierabend abwarten soll. Die nächste Frage ist, ob ich mich von den Kollegen verabschieden werde oder nicht. Wenn ich mich nicht täusche, sind sie derart betreten, daß ich momentweise vermute, sie haben schon länger von meiner Entlassung gewußt. So reglos wie eine Amsel im Winter sitze ich an meinem Schreibtisch. Natürlich war ich mit dieser Großwäscherei nie emotional verbunden. Ich mußte immerbeide Augen zudrücken, daß ausgerechnet ich in einer derartigen Umgebung überlebte. Vermutlich deswegen bin ich jetzt viel weniger erschüttert, als die Kollegen annehmen. Überwältigt bin ich nur von meiner letzten Begegnung mit Eigendorff. Diese Ruck-Zuck-Abfertigung hätte ich ihm nicht zugetraut. Ich beschließe, den Rest des Nachmittags im Büro auszuhalten. Auf diese Weise hoffe ich verhindern zu können, mich von den Kollegen einzeln verabschieden zu müssen. Schon nach zehn Minuten merke ich, wie schwierig es für mich ist, ein Scheitern auf diesem niedrigen Niveau wirklich hinzunehmen. Die Überempfindlichkeit in mir weiß sich endlich im Recht und weiß nicht wohin. Ich schaue aus dem Fenster und betrachte zwei Hunde, die eng an einer Hauswand entlanglaufen und nicht aufschauen. Mein Blick schweift nach links zum Flachdach einer Auto-Garage. Dort liegt ein Stück Dachpappe, in das von Zeit zu Zeit der Wind hineinfährt. Die Dachpappe sieht dann aus wie ein dreivierteltoter Vogel, der immer gerade zum letzten Mal einen Flügel hebt und ihn dann kraftlos absinken läßt. Immer mal wieder habe ich mir, dieses Bild betrachtend, gesagt: Eines Tages wird eine Situation eintreten, in der dieses Stück Dachpappe ein symbolischer Darsteller deines Lebens wird. Jetzt ist das Klischee eingetreten, und ich muß ein bißchen kichern. Ich hätte nichts gegen ein anständiges mächtiges Gefühl, immerhin bin ich fristlos
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