Das Glück reicht immer für zwei
ihn nicht beachtet. Nun ging er hinüber und nahm ihn aus dem Kübel. Ihm fiel auf, dass das Eis während seiner Abwesenheit erneuert worden war. Er wischte die Flasche mit der gestärkten Serviette trocken. Bislang, dachte er, wäre er von dieser Reise beeindruckt gewesen, hätte sie ihm etwas bedeutet.
Er nahm die Flasche und eine der Champagnerflöten und ging damit auf den Balkon hinaus. Ein tropischer Luftzug empfing ihn, einladend warm nach der kühlen klimatisierten Luft seiner Suite. Er stellte sich an die Reling und spähte in das dunkle Wasser hinab. Es war alles so merkwürdig, dachte er, während er die Flasche entkorkte. Merkwürdig und unerwartet und … Der Korken löste sich mit einem lauten Plopp und segelte im hohen Bogen über das Meer, wo er im Kielwasser des Schiffes unterging. Leo zuckte zusammen. In der Schiffsbroschüre wurden die Passagiere angehalten, keine Abfälle ins Meer zu werfen. Vielleicht, so hoffte er, während er sich ein Glas einschenkte, zählten Korken ja nicht. Kork war ein natürliches Material wie Koralle. Oder was auch immer.
Leo nahm einen großen Schluck. Im Laufe der letzten Jahre hatte er sich an dieses Getränk gewöhnt, aber in Wahrheit zog er noch immer Bier vor. Und doch gab es Zeiten, in denen Champagner einem das Gefühl verlieh, dass das Leben ganz okay war.
Wenn man sich elend fühlte, sollte man keinen Champagner trinken. Oder doch? Fühlte er sich in diesem Moment elend? Das gerade nicht, allenfalls müde. Es war zwar noch nicht besonders spät, aber seine innere Körperuhr nahm wohl an, dass es mitten in der Nacht sei. Er war es gewohnt, bis tief in die Nacht zu arbeiten, aber das hier war anders. Er gähnte ausgiebig und leerte sein Glas in einem weiteren Zug. Er fragte sich, ob es in allen Suiten Gratis-Champagner gab. Wahrscheinlich schon. Gratis-Champagner und Gratis-Erdbeeren, Gratis-dies und Gratis-das. Sie wollten einem das Gefühl geben, verwöhnt zu werden und privilegiert zu sein, genau wie in der Broschüre beschrieben. Das war ja auch schön so. Nur dass man sich alles in allem deshalb keinen Deut besser fühlte.
Er schenkte sich ein zweites Glas ein. Er wusste, dass es dumm war, da ihn gar nicht danach gelüstete. Sein Mund war bereits trocken vom Alkohol, und seine Augen drohten ihm zuzufallen. Aber er konnte nicht anders. Vielleicht sollte er sich sinnlos betrinken, dachte er. Seit Jahren hatte er sich nicht mehr sinnlos betrunken. Na ja, wenn man mal von dem Abend absah, als er Mike von der Kreuzfahrt erzählt hatte.
»Du hast die Reise also nicht storniert?« Mike sah ihn verwundert an.
»Ich habe es völlig vergessen«, erwiderte Leo. »Ich hatte an Wichtigeres zu denken. Erst als ich meine Kreditkartenabrechnung durchgesehen habe, ist es mir wieder eingefallen.«
»Dann fahr«, sagte Mike, »tritt die Reise an, amüsier dich und leg die erste Frau flach, die dir über den Weg läuft.«
»Ich kann nicht fahren.« Leo sah ihn entsetzt an. »Allein der Gedanke daran …«
Mike ließ ihn nicht ausreden. »Natürlich kannst du. Du kannst dein Leben nicht ewig auf Eis legen.«
Leo machte ein zerknirschtes Gesicht. »Ich glaube wirklich nicht …«
»Ja, ja, ich weiß. Aber du musst allmählich wieder in die Gänge kommen. Du musst dich aus deiner Starre befreien. Und am besten funktioniert das beim Vögeln.«
»Mike, die Frauen sind keine Objekte, die darauf warten, gevögelt zu werden, wie du weißt.« Die Worte klangen aufgesetzt in Leos Ohren. Tatsächlich hatte er ja schon einige gevögelt, ohne Gewissensbisse zu haben.
»Ich weiß«, sagte Mike. »Auch ich habe eine sensible Seite. Aber manchmal braucht man, egal, ob Mann oder Frau, hirnlosen, puren Sex.«
Leo hatte auch schon mal daran gedacht. Einige Monate zuvor hatte er einen Dubliner Nachtclub besucht, wild entschlossen, die erstbeste ansehnliche Blondine abzuschleppen und sie (wie sie früher immer gesagt hatten) ordentlich durchzuvögeln. Sex ohne jede Verpflichtung, nicht mehr als ein, zwei Stunden reine Fleischeslust (wenn er überhaupt eine Stunde durchhielt, wie er zynisch dachte). Doch die Flasche des teuren Champagners, die er im Club kaufte, trank er mehr oder weniger allein aus. Auch wenn es nicht an atemberaubenden Frauen mangelte, die sich kurz zu ihm setzten, um ihm Gesellschaft zu leisten. Aber sie mussten die Verzweiflung in seinen Augen erkannt haben, jedenfalls blieb keine von ihnen lange genug, um mit ihm die Flasche zu leeren. Davon, eine Frau für
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