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Das Glücksbüro

Das Glücksbüro

Titel: Das Glücksbüro Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Izquierdo
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wusste nicht recht, was er machen sollte. Ein großer Tropfen Zeit fiel in einen endlos tiefen Brunnen, ohne dass irgendjemand Anstalten machte zu reden – draußen waren keine Schritte mehr zu hören, drinnen nicht einmal der Atem.
    Albert fand, dass die Frau zu dünn war. Ihre Fingernägel waren ganz exakt geschnitten und sie starrte darauf, als tanzten dort kleine Elfen auf zehn kleinen Eisflächen. Sie roch angenehm nach Seife, die Kleidung war alt, aber penibel gepflegt, die Schuhe blank poliert.
    Nach einer Weile durchbrach Albert die Stille: »Was kann ich denn für Sie tun?«
    Er sah, wie sie ihre Fingerspitzen rieb, anhob zu sprechen und wieder in sich zusammensackte.
    »Ich …«
    Mehr brachte sie nicht zustande.
    Dann sank ihr Kopf auf die Brust, an den zuckenden Schultern konnte er sehen, dass sie angefangen hatte zu weinen. Albert begann, unruhig auf seinem Stuhl hin und her zu rutschen, denn plötzlich spürte er keinen Abstand mehr zu der alten Dame. Mehr noch als der Schmerz über ihre missliche Lage war da eine ungeheure Scham, die sie am Sprechen hinderte, und je länger sie einfach nur dasaß und Tränen auf ihre Hände tropften, desto wehrloser wurde Albert gegen diese Emotion.
    Er hatte ebenfalls begonnen, seine Fingerspitzen zu bearbeiten, und suchte nach einem tröstenden Wort, nach irgendetwas, was die Situation weniger persönlich gemacht hätte, aber so wie er den Regenspaziergang als neu und befreiend empfunden hatte, raste jetzt ein noch viel stärkeres Gefühl in seine Brust und blieb dort wie ein Pfeil stecken: Mitleid.
    »Nun«, begann er vorsichtig, »so schlimm wird es doch nicht sein?«
    Die Frau blickte weiterhin auf ihre Hände und schluchzte: »Ich habe gar kein Geld mehr …«
    Albert schluckte. Der Pfeil in seiner Brust bohrte sich immer tiefer ins Fleisch, ohne dass er das hätte verhindern können.
    »Bekommen Sie denn keine Rente?«
    »Doch, doch.«
    Albert nickte erleichtert: »Gut, gut. Haben Sie denn Ihren Rentenbescheid dabei?«
    Ohne ihn anzuschauen, kramte sie den Bescheid aus ihrer Tasche und reichte ihn über den Tisch. Albert nahm ihn entgegen und versuchte, seiner Stimme einen optimistischen Unterton zu geben: »Dann lassen Sie mal sehen …«
    Er überflog den Bescheid und glaubte an einen Irrtum.
    Las ihn noch einmal.
    Und stotterte dann: »D-das ist Ihre Rente …?«
    Die Alte nicke, blickte auf ihre Hände.
    »Und andere Einkünfte gibt es nicht?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    Albert sah auf den Bescheid, und in seiner Stimme schwang in gleichem Maße Empörung wie Schock: »Das kann doch nicht sein! Wie haben Sie das denn bis heute geschafft?«
    Sie blickte auf und antwortete: »Ich hatte noch Erspartes. Aber jetzt hab ich nichts mehr.«
    Sie ist zu dünn, dachte Albert, sie ist viel zu dünn.
    »Warum haben Sie sich denn nicht früher gemeldet?«, antwortete er bestürzt.
    »Ich hatte doch noch etwas Geld. Das wäre nicht ehrlich gewesen, Herr Glück.«
    Für einen Moment war er sprachlos. Aufrichtigkeit war die Tugend, die er am meisten schätzte, aber in ihrem Fall war es, als sänke man nach einem Schiffbruch, ohne um Hilfe zu rufen, langsam auf den Meeresgrund, während über einem das Sonnenlicht immer schwächer wurde und die Kälte einen in die Tiefe zog.
    Albert starrte wieder auf den Rentenbescheid: »Ich … Sie sind hier nicht richtig, wissen Sie?«
    Sie versuchte tapfer zu sein, nickte wie ein Kind, dem eine schlechte Nachricht mitgeteilt worden war und das nicht weiter weinen wollte.
    »Es ist nur … Sie müssten eigentlich ganz woanders hin …«
    Er hörte sich reden und hasste die Worte, die aus seinem Mund krochen. Ausgerechnet er, Albert Glück, der Herr der Anträge, hatte das zu jemandem gesagt, der ihm vor lauter Scham nicht einmal in die Augen sehen konnte. Zu jemandem, der zu stolz gewesen war, um etwas zu erbitten, der sprichwörtlich vor dem Ende stand – und alles, was ihm dazu einfiel, war, dass es nicht sein Ressort war!
    Das war doch nicht er!
    Und so beschloss Albert in eben dieser Sekunde, sein Spielfeld ein weiteres Mal zu erweitern, zu einer absolut unkontrollierbaren Größe, mit einer unkontrollierbaren Anzahl von Spielern und einem zu erwartenden unkontrollierbaren Chaos.
    »Warten Sie, ich hab da vielleicht eine Idee. Es ist zwar nicht mein Ressort, aber das sollte nicht so schwierig werden … Ich versuche mal was. Kommen Sie morgen wieder, Sie müssen dann ein paar Vollmachten unterschreiben.«
    Jetzt weinte sie

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