Das Glücksbüro
Überzahl und würden sicher alle auf ihn einreden. Der Gedanke war so grauenvoll, dass er gar nicht erst wagte, gegen den Aufmarsch zu protestieren. So oder so würde sein ganzer Tagesablauf durcheinandergeraten. Komplett durcheinander. Und das nur, weil Frau Sugus offenbar durchdrehte und über sein Leben verfügte. Einfach so. Ohne zu fragen!
Das konnte sie doch nicht machen!
Albert machte gute Miene zum bösen Spiel, und je länger er durch die Antragsteller von seiner eigentlichen Arbeit abgehalten wurde, desto größer wurde sein Zorn auf Anna. Gestern war es ja noch ganz nett gewesen, ein paar Leuten zu helfen und gleichzeitig seine eigentliche Arbeit zu verrichten. Aber das hier ging jetzt eindeutig zu weit. Schickte er etwa kunstinteressierte Beamte zu ihr nach Hause, damit sie dort Unterricht nahmen? Was würde Frau Sugus sagen, wenn da plötzlich vierzehn Leute vor ihrer Tür stehen würden, die alle sagten: Herr Glück schickt uns! Würde sie das nicht auch als Eingriff in ihre Privatsphäre empfinden oder stand sie da ganz künstlerisch drüber? Albert war sich sicher, dass es Frau Sugus nicht gefallen würde.
Nach den ersten dreien versuchte er sie anzurufen, aber mittlerweile traten die Antragsteller ein, ohne zu warten, dass er Herein! rief! Es blieb ihm daher nichts anderes übrig, als den Zettel mit ihrer Nummer wieder zusammenzufalten und weiterzumachen. Nicht mal telefonieren konnte er noch! Von seinem Bearbeitungskorb für Eingänge gar nicht zu sprechen, denn da hatte sich gar nichts getan. Der stand da unberührt, ständig mahnend, dass er seinen Pflichten nicht nachkam.
Der Vormittag verging.
Wenigstens eine gute Nachricht hatte er gebracht. War Alberts Angst wie ein Quietscheentchen auf hoher See durch sein Gemüt getanzt, so hatte sich die Aufregung nach und nach gelegt und war gluckernd abgelaufen, sodass mit dem letzten Besucher nichts als Leere blieb. Er war erschöpft, brachte nicht mal die Kraft auf, wütend zu sein. Der Sturm war vorbei, und so fühlte er sich auch: als ob innerlich die Blätter von den Ästen gefegt worden waren. Zurück blieben nur das Geäst, ein klarer, nasser Tag und eine Unordnung, die behoben werden wollte.
Er war so ausgelaugt, dass er in der Mittagspause völlig vergaß, nach dem Küchenchef und Fräulein Traurig Ausschau zu halten, ja, um der Wahrheit die Ehre zu geben erinnerte er sich nicht einmal daran, in der Essensschlange gestanden zu haben, geschweige denn, was es zu Mittag gegeben hatte. Erst als er wieder auf dem Weg in sein Büro war, fielen ihm die beiden ein, aber er fühlte sich zu schwach, um sich darüber zu ärgern. Dass eine alte Frau auf einer Bank im Flur saß, ganz in der Nähe seines Büros, fiel ihm zwar auf, aber es war ihm egal, weswegen sie da war. Er wollte nur noch seine Ruhe.
Stoisch, fast schon verbissen, arbeitete er ohne weitere Störungen die Anträge ab. Kugelschreiberkreuzchen, Aktenvermerk, Stempel, Ausgangskorb … Und als er draußen das Getrappel von Füßen und hier und da ein Feierabend! hörte, hatte Albert das Unmögliche möglich gemacht und alles geschafft. Er legte den letzten Antrag in das Ausgangskörbchen und streckte sich zufrieden: Was für ein Tag! Er war zwar nicht mehr wütend auf Frau Sugus, nahm sich allerdings trotzdem vor, mit ihr über das zu reden, was heute vorgefallen war.
Er verließ sein Büro und schloss sorgsam hinter sich ab.
»Herr Glück?«
Albert drehte sich überrascht um und sah, dass die alte Frau von der Bank auf dem Flur aufgestanden war und direkt auf ihn zuhielt.
»Ja?«, fragte er zurück.
»Frau Sugus schickt mich …«, sagte sie schüchtern.
Albert sah auf seine Uhr und protestierte: »Aber es ist 16.00 Uhr!«
Zu seiner Überraschung erwiderte die Frau nichts. Sie wagte ohnehin kaum ihn anzusehen, nickte nur stumm und wendete sich wieder ab. Hatte sie den ganzen Nachmittag dort verbracht? Ohne bei ihm anzuklopfen?
Er sah wieder auf die Uhr und seufzte: Seit fast fünfunddreißig Jahren hatte er nicht eine Überstunde gemacht. Seit fast fünfunddreißig Jahren war er immer rechtzeitig fertig geworden. Fünfunddreißig Jahre lang war alles wie in einem Uhrwerk gelaufen. Seit diesem vermaledeiten Antrag stand nichts mehr an seinem Platz. Zum Auswachsen war das!
»Warten Sie!«, rief Albert und schloss die Bürotür wieder auf.
33.
Eine Weile dachte Albert, die alte Frau würde das Gespräch beginnen, aber dem war nicht so. Sie saßen sich gegenüber, und Albert
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