Das Glücksbüro
Uhr, als Albert sein Büro abschloss und endlich Feierabend machte. In den letzten Wochen hatte es nicht einen Tag gegeben, an dem er pünktlich hätte Feierabend machen können, was ihm aber nicht sehr viel ausmachte, denn er empfand es als sehr wohltuend, wenn ein aufregender und arbeitsreicher Tag zu Ende ging und er das Gefühl hatte, viele knifflige Situationen gut bewältigt zu haben. Allein, dass er weniger Zeit für Anna hatte, störte ihn.
So verließ er nun in aller Regel ein völlig entvölkertes Amt, stieg die Treppen hinab in das Foyer und ging nach Hause. Der Weg zur Bushaltestelle war im sanften Abendlicht einfach herrlich. Er fühlte sich stets frisch und frei, wenn er in den Bus einstieg, seine Monatskarte vorzeigte und bis zur Wertbergstraße in einen angenehmen Dämmerzustand verfiel, in dem er meist von Anna träumte.
Seit einigen Wochen lebte er bei ihr, und es war erstaunlich, wie mühelos er sein Zimmer im Keller aufgegeben hatte, das über knapp fünfunddreißig Jahre sein Zuhause gewesen war. Er hatte weder gezögert noch zurückgeblickt, sondern hatte das Zimmer abgeschlossen und war einfach gegangen. Alles, was er war, war in diesem kleinen Raum zurückgeblieben, alles, was ihn ausgemacht hatte, war mit einem einzigen Tanz weggewischt worden: Es gab keine Geburtstage mehr und auch keine Mayonnaise, keinen Dienstbeginn um Punkt 7.30 Uhr, kein A 12, A 401, B 20, B 21, E 12, E 42, E 44, D 23, D 221, F 01 und F 04, keine Hungerläufe oder sprechende Türen mehr, keinen Propeller, keine einsamen Abendessen in einer leeren Kantine, keine Legenden der Leidenschaften und keine Schogetten, keine Welt draußen und drinnen. Es gab nur noch eine Welt. Und die war schön.
E 45.
Albert lehnte den Kopf gegen die Fensterscheibe: was für ein Antrag! Wo mochte er wohl hergekommen sein? Und wo war er jetzt hin, denn zurückgekehrt war er nicht. Ob er jetzt bei einem anderen auf dessen Schreibtisch lag? Gab es noch jemand anderen wie Albert Glück? Der auf einen Antrag wartete, der nichts beantragte – außer vielleicht ein neues Leben.
Anna erwartete ihn bereits in der Tür und gab ihm einen Kuss: »Ist wieder spät geworden, was?«
Albert nickte: »Es werden immer mehr.«
Sie aßen zu Abend: Strammer Max, ein Gläschen Rotwein und erzählten einander ihren Tag. Später saß Albert in einem Sessel und sah etwas fern. Er hatte sich in letzter Zeit öfter die DVD Meer/stürmisch angesehen und dachte, dass es schön sein musste, wirklich einmal an einer Küste zu stehen und der Brandung zuzusehen.
Anna versuchte sich derweil an einem weiteren wilden Malspektakel, arbeitete mit vollem Körpereinsatz, zog wilde Linien und Bögen, spritzte und tupfte und kombinierte Farben, die sie noch nie zuvor zueinandergebracht hatte. Das Bild nahm schnell Gestalt an, vielmehr verlor die Leinwand schnell ihre neutrale Farbe und versank schließlich unter ihrem rabiaten Anstrich.
Albert hatte ihre Unzufriedenheit gar nicht bemerkt, doch bald hieb Anna so wütend auf die Leinwand ein, dass die Farbe durch den ganzen Raum flog und schließlich auch Schlieren auf der Mattscheibe zog. Er drehte sich zu ihr um und sah, dass sie den Pinsel verärgert auf den Boden warf und sich mit dem Ärmel ebenso erschöpft wie deprimiert über das Gesicht wischte.
»Was ist denn?«, fragte Albert ruhig.
»Das ist alles Scheiße!«
Albert stand auf, stellte sich vor die Leinwand und begutachtete das Werk, von dem die Farbe nur so herabtropfte.
»Was gefällt dir denn nicht?«
Anna stemmte die Arme in die Hüften und antwortete müde: »Früher hätte ich es gut gefunden, aber jetzt … Ich entwickle mich einfach nicht.«
Albert schwieg einen Moment und sagte dann: »Vielleicht brauchst du mal eine Auszeit?«
Sie sah ihn neugierig an.
Albert sagte: »Künstler brauchen Inspiration. Vielleicht sollten wir Urlaub machen.«
Sie lächelte: » Du möchtest Urlaub machen?«
»Warum nicht?«
Sie umarmte und küsste ihn: »Wo möchtest du hin?«
Albert hörte in seinem Rücken Wellen brechen und sagte: »Wir könnten ans Meer fahren. Ich war noch nie am Meer.«
»Du warst noch nie am Meer?«
»Nein.«
Sie küsste ihn wieder und strahlte: »Gib mir eine Stunde!«
Sie drehte sich um, eilte in Richtung Bad.
Albert sah ihr ein wenig erschrocken nach und rief: »Ich hatte da eigentlich eher ans Wochenende gedacht!?«
Doch statt einer Antwort hörte er nur die Dusche rauschen.
49.
Dr. Isidor Sommerfeldt gehörte
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