Das Glücksprojekt
»Na ja«, überlegt er, »könnte toll werden oder eine totale Katastrophe«, und das ist genau das, was ich mir auch gedacht habe. Es ist eigenartig, dass L. die zwei nicht kennt, während ich eigentlich das Gefühl habe, L. kennt alles von mir. An diesem Abend erzählen wir uns von unserer Schulzeit. Es ist schön, dem anderen etwas von sich erzählen zu können, das er noch nicht weiß, und wir fühlen uns allmählich wie aufgekratzte Teenager, albern herum und sind froh, dass uns niemand schimpft, als wir betrunken und sauspät ins Bett fallen.
Am nächsten Morgen blinkt es schon im Posteingang der Mailbox. Charly. Sie hat mit Tobias gesprochen, der hält die Idee für grandios, ich soll mitkommen. Als ich im Internet ein echtes Spitzenangebot für einen Flug entdecke, gehe ich beim Onlinekauf bis vor den letzten Bestätigen-Klick. Über der Entertaste hängt mein Zeigefinger in der Luft. Will ich wirklich eine Woche mit zwei Menschen verbringen, die ich seit über 20 Jahren nicht gesehen habe? Was, wenn die beiden sich zu völligen Knallköpfen entwickelt haben? Oder plötzlich ärmellose Jeansjacken tragen? Oder wir uns einfach nichts zu sagen haben? Bevor mir noch 100 Szenarien einfallen, denke ich an meinen neuen Vorsatz Nicht ständig schwarzsehen und drücke die Entertaste. Diese kleine Bewegung meines Zeigefingers wird mich in zwei Wochen sehr weit weg befördern, ich finde das immer noch unglaublich. Danach sitze ich ganz still und mir ist ein bisschen feierlich zumute. Der Computer ist sich des großen Moments nicht bewusst und macht einfach nur »Pling«.
An den Tagen vor dem Abflug verfolgt mich eine Vorstellung von Charly und Tobias, wie sie am Flughafen in Kairo nebeneinanderstehen, um mich abzuholen. Beide in ärmellosen Jeansjacken, Tobias mit einem Bierbauch über kurzen Hosen und rot gebrannt, Charly mit offenem Mund Kaugummi kauend. Ich kann dann immer noch sagen, ich habe Migräne, überlege ich. Die bekannte Ein-Wochen-Migräne. Da muss man alleine in einem klimatisierten Zimmer liegen und darf nicht gestört werden. Ja, das könnte gehen.
Als ich in Kairo meinen Koffer vom Band nehme und auf die Türe zugehe, hinter der die Abholer warten, bekomme ich feuchte Hände. Ich war noch auf der Toilette und habe mich mithilfe von Kajal und Wimperntusche so hübsch gemacht, wie es die Reise zulässt. Ich habe mich vor meinem Abflug zehnmal umgezogen, damit ich gleichzeitig umwerfend gut aussehe, ohne dass es so wirkt, als hätte ich mich dafür zehnmal umgezogen. Ich habe während der Landung ein Tic-Tac für frischen Atem in meinem Mund zergehen lassen. Mehr kann ich jetzt auch nicht machen, denke ich und gehe durch die Automatiktüre nach draußen. Nach zwei, drei Schritten bleibe ich stehen, denn der beste Platz, um jemanden zu entdecken, der einen abholen will, ist direkt nach der Türe. Es ist aber auch gleichzeitig der unangenehmste Platz, weil man im Mittelpunkt von 100 Blicken steht, die alle auf jemanden warten. Ich halte das maximal 5 Sekunden lang aus. Und da entdecke ich Tobias, der allein schon wegen seiner Körpergröße aus der Menge heraussticht. Gott, ist der groß geworden, schießt es mir durch den Kopf. Und dann: Klingt wie die alte Tante Hanni in meiner Kindheit, und dann: Völlig unangemessen, jetzt an Tante Hanni zu denken. Gott sei Dank erlöst mich Tobias aus meinen Gedanken, indem er mich in den Arm nimmt. »Hallo, Alex.« Diese Stimme kenne ich noch ein paar Töne höher. Dann stehen wir voreinander und betrachten uns, wie man ein seltenes Tier betrachtet. Er trägt natürlich keine ärmellose Jeansjacke. Tobias kommt aus der Arbeit und trägt einen Anzug, ein blaues Hemd, eine Krawatte und eine Brille – so eine ähnliche hatte er mit zwölf auch schon. Er sieht aus wie einer dieser Geschäftsmänner, die in Abflughallen von Flughäfen wohnen. Nur dass dieser hier eine kleine Narbe auf der Wange hat, von der ich weiß, dass sie von einem Fahrradsturz stammt. Und wie er aussah, als er dachte, er müsse deswegen sterben, das weiß ich auch – ich war nämlich dabei. Und dieser Schalk, der ihm aus den Augen blitzt, den sieht das ungeübte Auge auch nicht ohne Weiteres. Ich kann mich auch an seinen Liebesbrief von damals erinnern und daran, dass er »Hertz« mit »tz« geschrieben hat. Es ist wie eine optische Täuschung – er sieht zwar aus wie alle anderen Businesstypen, er hat bestimmt Meetings und leitet Projekte und isst Geschäftsessen, aber darunter ist er nur
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