Das Glücksrezept - O'Neal, B: Glücksrezept - The Lost Recipe for Happiness
Donnerstagabend auf dem Highway 76 die Kontrolle über das Fahrzeug verlor und frontal gegen einen Baum prallte. Die Teenager waren allesamt Schüler der Española-Valley-Highschool. Drei von ihnen waren Geschwister – Isobel Alvarez, 18, ihr jüngerer Bruder Albert, 14, sowie die einzige Überlebende, Elena Alvarez, 18, die schwerste Verletzungen erlitt und bislang das Bewusstsein nicht wiedererlangt hat. Sie wurde per Hubschrauber ins Krankenhaus von Albuquerque überstellt. Ihr Zustand gilt als äußerst kritisch. Bei den anderen Unfallopfern handelt es sich um Edwin Valdez, 18, den Freund der Überlebenden, und um die 17-jährige Penelope Madrid, eine Cousine der Alvarez-Kinder. Alkohol konnte als Unfallursache ausgeschlossen werden.
Julian schlug die Seite mit dem Daumen um. Im Grunde eine Geschichte, wie sie jeden Tag vorkam – banal und zugleich eine unfassbare Katastrophe. Unfälle wie dieser geschahen ständig und überall – Fahrer, die einem die Straße kreuzenden Zug auszuweichen versuchten, Rennen auf verlassenen
Landstraßen, unübersichtliche Straßen in der Dunkelheit, Alkohol am Steuer in jeglicher Form und Ausprägung.
Dennoch spürte er einen Kloß im Hals, ein Gefühl der Leere in der Magengrube. Drei Kinder, ohne Vorwarnung ihrer Familie entrissen, zwei Geschwister und eine Cousine tot, und ein viertes Kind so schwer verletzt, dass es allem Anschein nach über ein Jahr gedauert hatte, bis sie aus dem Krankenhaus entlassen werden konnte.
Seine Hand wanderte zu seinem Ziegenbärtchen. Eine gewöhnliche Schreckensgeschichte. Wie ein Mord. Ein Täter, der eine Frau vom Supermarktparkplatz zerrte, um sie zu töten und ihre Leiche anschließend achtlos auf einem Acker liegen zu lassen. Wie viele Male im Jahr kam so etwas vor? Einmal pro Woche? Einmal am Tag?
Wie überstanden die Familien diese Art des Verlusts? Allein die Vorstellung, seine Tochter zu verlieren, brachte Julian schier um den Verstand. Selbst er, der seinen Lebensunterhalt damit verdiente, finsterste Geschichten zu ersinnen, stieß vorsichtshalber leise Gebete an Engel aus, an deren Existenz er nicht glaubte – nie, bitte, niemals, lass es nicht passieren . Die Dunkelheit, die diese Vorstellung in sich barg, war mehr, als er ertragen konnte.
Er war auf den Artikel gestoßen, als er den Namen seiner neuen Küchenchefin gegoogelt hatte. Er unterzog jeden Kandidaten für eine Führungsposition grundsätzlich einer Prüfung, nur um zu verhindern, dass später irgendwelche unschicklichen Details ans Licht kamen. Die Verfasserin des jüngsten Artikels in Vancouver hatte angedeutet, dass Elena Alvarez in jungen Jahren einen schweren Verlust erlitten hatte, war aber nicht weiter ins Detail gegangen.
Schwerste Verletzungen. Was genau war damit gemeint? Wie lange hatte sie wohl im Koma gelegen, ohne zu wissen, dass ihre Verwandten und Freunde tot waren?
In der Stille des Raums stimmte Ella Fitzgerald auf ihre unnachahmliche Weise Summertime an, ein Song, bei dem ihm jedes Mal der Schmerz wie ein Messer ins Herz fuhr. Als er auf den Artikel gestoßen war, hätte er ihn am liebsten gelöscht, ihn verbrannt, vergessen.
Aber er hatte auch gewusst, dass er es nicht tun würde. Es war etwas, was er noch nicht ausgelotet hatte, ein Aspekt der immer wieder auftauchenden Frage in seinen Filmen – wie gingen die Menschen mit den dunklen Seiten im Leben um? Seine kreative Neugier war geweckt worden, auch wenn er sich ein klein wenig dafür schämte. Was genau war die Triebfeder? Reine Sensationslust oder die natürliche Neugier des Geschichtenerzählers?
Nachdem diese Tür erst einmal geöffnet war, ließ sie sich nicht mehr schließen. Seine Gedanken – Musen seiner Fantasie, mager und pockennarbig – wanderten durch finstere Gassen, registrierten alles, wovon sich andere mit Schaudern abwandten. Was, so fragte er sich, war mit all jenen, die derartige Tragödien überlebten? Entwickelten sie eine besondere Neigung zur Maßlosigkeit oder zur Selbstzerstörung? Was trieb sie an?
Er nahm sein Notebook vom Seitentisch aus schwarzem Granit und Kirschholz und fuhr mit dem Daumen über das Mousepad, bis die Google-Seite erschien. Er klemmte sich den Füller zwischen die Zähne und tippte Überlebende katastrophaler Autounfälle ein.
Eine zarte Gestalt löste sich aus den Schatten des Korridors. »Was machst du da?«
Eilig löschte Julian die Suchbegriffe und registrierte die Gewissensbisse, die ihn seltsamerweise überfielen. »Nichts, Schatz.
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