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Das Gluehende Grab

Das Gluehende Grab

Titel: Das Gluehende Grab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yrsa Sigurdardottir
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normal. Angeblich haben sie
Konzentrationsstörungen, sind hyperaktiv oder Gott weiß
was, nur damit die Fachärzte absahnen können. Tinna ist
dünn und isst nicht genug. Fertig. Vielleicht hat sie im
Fernsehen zu viele Models gesehen.«
    Die Frau
stöhnte. »Willst du deiner Tochter helfen und mit dem
Mann reden oder nicht?« Sie hievte sich aus dem Sessel und
schaute sich um. Ihr zynischer Gesichtsausdruck schlug Adolfs um
Längen. »Ich bezweifle sowieso, dass es irgendwas
bringt. Mir ist scheißegal, was du machst. Jedenfalls kann
ich dem Therapeuten guten Gewissens sagen, dass ich versucht habe,
dich dazu zu bringen.«
    »Was
erwartet er denn von mir?« Adolf war auf einmal doch
enttäuscht, dass sie schon gehen wollte. Er hatte schon lange
keinen Besuch mehr gehabt. Seine Freunde hatten sich immer mehr
zurückgezogen, je näher die Gerichtsverhandlung kam. Sie
wollten keinen Vergewaltigerstempel aufgedrückt bekommen.
»Willst du einen Kaffee? Ich hab Kaffee da, wenn du
willst.«
    Sie schaute
ihn verwundert an. »Nein. Nein, danke.« Sie rückte
die Handtasche auf ihrer Schulter zurecht und verlagerte das
Gewicht {282 }ihres schlanken Körpers auf das andere Bein.
»Redest du mit ihm?«
    Adolf zuckte
mit den Schultern und ließ seinen Blick von der Frau zum
Couchtisch wandern. »Wenn ich wüsste, was er von mir
will, warum nicht? Ich verstehe trotzdem nicht, was für einen
Sinn das haben soll.«
    »Ich
weiß auch nicht, worüber er mit dir reden will«,
sagte die Frau mit müder Stimme. »Falls du dir Sorgen
machst, dass er dich analysieren will, kannst du locker bleiben.
Soweit ich weiß, versucht er nur, sich einen Gesamteindruck
zu verschaffen.«
    »Was
für einen Gesamteindruck?« Adolf fiel es schwer, das zu
verstehen. Er mochte keine Psychiater, Psychologen und das ganze
Gesocks. Diese Typen brachten ihn immer aus dem Konzept, und er
fühlte sich in ihrer Anwesenheit unwohl.
    Sie sah ihn an
und schien es eilig zu haben. Plötzlich durchschaute Adolf ihr
Spiel: Sie wollte, dass er nein sagte. Dann konnte sie weiter die
Märtyrerin spielen, die arme alleinstehende Mutter mit dem
kranken Kind, die keine Hilfe und kein Verständnis von dem ach
so bösen Vater erwarten konnte. Sie räusperte sich
vorsichtig, so als würde sie spüren, dass er sie
durchschaut hatte. Aber vielleicht spiegelte sich in ihren Augen
doch nur Müdigkeit und unendliche Resignation. »Ein
Gesamtbild von Tinnas Leben, wie sie war, bevor sie von dieser
Krankheit gepackt wurde. Ich hab den Mann schon mehrmals getroffen.
Er ist sehr sachlich, und es ist überhaupt nicht unangenehm,
mit ihm zu reden. Sie halten Tinnas Erkrankung jetzt doch für
schwerwiegender als anfangs angenommen – dem Ganzen soll eine
wesentlich ernstere psychische Erkrankung zugrunde liegen.«
Sie musterte Adolf einen Moment und knöpfte dann ihre Jacke
zu. »Der Therapeut kann deine Fragen über Magersucht und
diese andere Krankheit beantworten, falls du welche hast. Mir hat
das sehr geholfen.«
    Adolf nickte
und musterte die Mutter seines Kindes, die so dünn und
abgearbeitet aussah, dass sie viel älter wirkte. Von ihr {283
}behauptete niemand, sie sei krank. Tinna hatte schlicht und
ergreifend die Figur ihrer Mutter geerbt. »Ich habe keine
Fragen zu dieser Krankheit.« Es war gar nicht seine Absicht
gewesen, Ironie in das Wort Krankheit zu legen.
    »Sie ist
krank«, sagte die Frau resigniert. »Du bist ein Idiot,
Adolf. Ein völliger Idiot, wenn du das nicht
siehst.«
    Er
schäumte vor Wut. Das machte sie jedes Mal. Nichts war gut
genug für sie; er war der Idiot und sie der Engel in
Menschengestalt. »Du bist selbst ein Idiot, meine Tochter
grundlos diesem System zu überlassen. Du bist der Idiot. Nicht
ich.«
    Sie
betrachtete ihn eine ganze Weile. Einen Moment lang dachte Adolf,
sie würde in Tränen ausbrechen, aber sie schüttelte
nur frustriert den Kopf und winkte ihm matt zu. »Ich bin
weg.« Sie machte auf dem Absatz kehrt, ohne sich noch einmal
nach ihm umzudrehen.
    Adolf stand
auf und ging ihr nach. Er hatte zwar das letzte Wort gehabt, aber
trotzdem das Gefühl, verloren zu haben. Es war
unerträglich – bis zum Prozess brauchte er jeden noch so
kleinen Sieg, wenn er das alles durchstehen wollte. »Du gibst
also zu, dass du ein Idiot bist?« Die Frau ging ruhig
Richtung Eingangstür. Er hätte sich besser gefühlt,
wenn sie schneller gegangen wäre. Mit ihrer Art zu gehen
signalisierte sie ihre Überlegenheit.
    Plötzlich
blieb sie stehen, drehte

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