Das Gluehende Grab
ihr
die Vergewaltigung, in die er verwickelt war, so naheging und warum
sie ein Foto von ihm in ihrer Schublade
aufbewahrte.
Aber der
Kontakt zu Aldas Mutter musste über ihre Schwester
Jóhanna laufen. Die alte Frau würde die Anwältin
des vermeintlichen Mörders ihrer Tochter bestimmt nicht noch
einmal sehen wollen. Dóra musste sich beeilen und die Sache
klären, bevor um zwei Uhr die Entscheidung über die
U-Haft fiel.
Eine Kollegin
in der Bank teilte ihr mit, Jóhanna sei leider nicht {320
}im Hause. Ihre Stimme klang jung, und sie war überaus
freundlich. Dóra erklärte, ihr Anliegen sei sehr
dringend, und fragte die Frau, ob sie wisse, wo Jóhanna zu
erreichen sei. Die Stimme der Bankangestellten wurde ernster, als
sie sagte, Jóhanna sei wegen der Sarglegung ihrer Schwester
in Reykjavík. Sie hielt es für unwahrscheinlich, dass
Jóhanna unter diesen Umständen ihr Handy eingeschaltet
hatte. Dóra bat sie trotzdem, ihr die Handynummer zu geben,
verabschiedete sich und rief Jóhanna an. Eine mechanische
Stimme erklärte, der Anschluss sei momentan nicht erreichbar.
Es war halb elf. Dóra war erst zweimal bei einer Sarglegung
gewesen, jedes Mal in der Kapelle in Fossvogur. Sie rief dort an
und wurde informiert, dass Alda þorgeirsdóttirs
Sarglegung dort heute und in den nächsten Tagen nicht
abgehalten wurde. Der Mann konnte ihr leider auch nicht sagen, wo
diese stattfand, da gebe es viele Möglichkeiten. Er
erklärte, Sarglegungen würden so gut wie nie
öffentlich bekanntgegeben, denn diese Abschiedszeremonien
seien ausschließlich den nächsten Angehörigen
vorbehalten.
Dóra
überlegte, wer wohl zu Aldas Sarglegung eingeladen war, aber
ihr fiel nur die Ärztin Dís ein. In der Arztpraxis
verkündete der Anrufbeantworter, das Telefon sei aus
Krankheitsgründen an diesem Tag nur nachmittags besetzt. Wenn
alle anderen Bemühungen vergeblich waren, kam ihr nur ein
einziger Mensch in den Sinn: Reedereikönig Leifur von den
Westmännerinseln.
Es
vergingen nur sieben Minuten, bis Leifur sie zurückrief und
ihr mitteilte, die Sarglegung finde um zwei Uhr in der
Fríkirkja statt. Der Ort hätte gar nicht besser liegen
können – es sei denn, die Zeremonie fände direkt im
Bezirksgericht um die Ecke statt. Dóra bedankte sich bei
Leifur, teilte ihm den Grund für ihre Frage aber nicht mit.
Obwohl er bestimmt neugierig war, fragte er auch nicht
nach.
Eilig
verließ Dóra in strömendem Regen Svalas Kanzlei.
Die dicken Tropfen erinnerten eher an einen Regenschauer im Ausland
als an isländischen Regen. Dóra rannte zu dem kleinen
Wagen, {321 }den sie sich anstatt des großen Jeeps gekauft
hatte, dessen Unterhalt viel zu teuer gewesen war. Vielleicht war
Aldas Mutter schon in der Fríkirkja eingetroffen, um die
Feier vorzubereiten – wenn nicht, wusste der Priester
bestimmt, wo sie sich aufhielt. Vielleicht in Aldas Haus oder in
irgendeinem Hotel. Ob man als Mutter lieber inmitten der Sachen
seines verstorbenen Kindes oder in einem unpersönlichen
Hotelzimmer übernachtete?
Wie
üblich war es nicht leicht, in der Innenstadt einen Parkplatz
zu finden. Dóra kurvte durch das Viertel rund um die Kirche,
bis endlich eine ältere Frau ihren Yaris aus einer winzigen
Parklücke bugsierte. Eine Zeitlang sah es so aus, als
müsste Dóra sich einen anderen Platz suchen, aber am
Ende gelang es ihr doch mit unglaublicher Geschicklichkeit, den
Wagen in die enge Lücke zu quetschen.
Als
Dóra vor der Fríkirkja stand, drangen leise
Orgelklänge durch die massive Holztür. Sie hoffte, dass
die Feier noch nicht begonnen hatte, denn sie wollte nicht mitten
in eine Abschiedszeremonie platzen. Es war natürlich
ausgesprochen geschmacklos, eine trauernde Mutter zu
belästigen, die sie noch nicht einmal kannte, aber sie hatte
schließlich wichtige Interessen zu vertreten. Vorsichtig
öffnete sie die Tür. Der Organist brach mitten im Lied ab
und begann mit einigen Fingerübungen. Dóra
schüttelte im Vorraum den Regen von ihrer Jacke und legte das
Ohr an die Tür zum Kirchenschiff. Die Orgelklänge
übertönten die meisten anderen Geräusche, aber sie
konnte dennoch leise Stimmen hören. Sie öffnete die
Tür einen Spalt und spähte hinein. Vorne in der Kirche
saßen zwei Frauen und betrachteten einen weißen Sarg
vor dem Altar. Eine von ihnen stand auf und ging zum Sarg. Von
hinten sah sie aus wie Aldas Schwester. In der zweiten Bank von
vorne saß eine Frau mit kurzgeschnittenem, gräulichem
Haar – Aldas Mutter. Dóra
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