Das Gluehende Grab
mehr ein. Sie schwieg während des
restlichen Frühstücks, was jedoch nicht weiter auffiel,
denn Bella posaunte die Ereignisse der letzten Nacht bis ins
kleinste Detail raus – und Dóra wäre sowieso
nicht zu Wort gekommen.
Dís
vergrub ihr Gesicht in den Händen. »Was sollen wir jetzt
tun?« Sie hatte sich nach dem Auffinden von Aldas Leiche
immer {86 }noch nicht ganz wieder gefasst. In der ersten Nacht
hatte sie todmüde im Bett gelegen und nicht einschlafen
können. Sie zerbrach sich den Kopf darüber, warum ihr
Kollege Ágúst und sie nicht gemerkt hatten, dass es
der Krankenschwester nicht gutging. Sämtliche Gespräche,
an die sie sich erinnern konnte, hatten sich um die Arbeit, die
nächste Operation oder den Zustand des kleinen Lagers gedreht.
Dís war zumindest nichts Ungewöhnliches aufgefallen.
Kurz bevor sie in den frühen Morgenstunden vom Schlaf
übermannt wurde, tröstete sie sich mit dem Gedanken, dass
die Zeit alle Wunden heilt. Aber seelische Wunden schmerzten
länger als körperliche. Jedenfalls wurde es mit der Zeit
nicht leichter, sich mit Aldas Tod abzufinden. Dís
fühlte sich noch elender als an dem Tag, als sie die
Krankenschwester gefunden hatte. Der Anblick hatte sich in ihr
Gedächtnis gebrannt. Sie hatte erst den Notarzt alarmiert und
dann im Schlafzimmer gewartet. Im Nachhinein betrachtet, wäre
es natürlich vernünftiger gewesen, unten im Wohnzimmer,
in der Küche oder draußen im Auto zu warten, aber in
jenem Moment erschien ihr das der Toten gegenüber respektlos,
und sie setzte sich an den kleinen Frisiertisch am Bettende. Es
vergingen keine zehn Minuten, bis der Krankenwagen kam, aber diese
zehn Minuten waren die längsten ihres Lebens. Die meiste Zeit
saß sie reglos da und starrte Aldas Körper an, ihre
aufgerissenen Augen, die zur Tür glotzten, als sei dort die
Wahrheit zu finden, und ihren weit geöffneten Mund, der in
einem Angstschrei erstarrt zu sein schien. Dís kannte sich
nicht gut mit Pathologie aus und wusste nicht, wie man aussah, wenn
man eine Überdosis der Medikamente genommen hatte, die neben
dem Bett lagen. Falls Alda versucht hatte, sich damit das Leben zu
nehmen, hatte sie offensichtlich etwas falsch gemacht. Ihre
Hände waren zu Fäusten geballt und ihre ansonsten
tadellose Haut bis aufs Blut zerkratzt. Die Risse waren so tief,
dass das Blut eine dunkle Lache bildete, in der ihr Gesicht
lag.
»Was
meinst du? Wir können nichts tun. Sie hat sich
umgebracht«, entgegnete Ágúst abweisend.
»Wir gehen zur Beerdigung {87 }und lassen einen Kranz binden
oder so.« Er hörte sich überhaupt nicht so an, als
ginge ihm Aldas Tod nahe, obwohl sie jahrelang bei ihnen gearbeitet
hatte.
Dís
nahm die Hände vom Gesicht und richtete sich auf. »Was
ist los mit dir?«, sagte sie mit schriller Stimme.
»Eine Krankenschwester, die mit uns zusammengearbeitet hat,
stirbt viel zu früh, und du willst das mit einem Kranz oder so
abhaken? Sehr einfühlsam.« Sie fragte sich, was sie
eigentlich erwartet hatte. Ágúst war
gewissermaßen so wie sein Büro – kalt und
gefühllos. Dís’ Büro war zwar auch nicht
besonders persönlich eingerichtet, aber seines war so steril
und ordentlich, dass man eine Notoperation auf dem Schreibtisch
hätte durchführen können. Es gab nichts
Überflüssiges, keinen Gegenstand, der nur dort stand,
weil er hübsch oder amüsant war. Sogar die Bilder an den
Wänden illustrierten die wichtigsten plastischen Operationen
und hingen nicht ohne Grund da. Beim Aufhängen der Bilder
hatte Ágúst ihr erklärt, sie dienten zur
Abschreckung von Patienten, die Angst vor der OP hatten.
Ágúst vertrat die Ansicht, die Zahl der Operationen,
bei denen der Patient im letzten Moment absprang, sei erheblich
zurückgegangen, seit er die Bilder aufgehängt
hatte.
Ágúst
zuckte erschrocken zurück. »Aber ...«, stieß
er seufzend hervor, »ich ...«, er lehnte sich über
den Schreibtisch und griff nach Dís’ Hand, »du
weißt ganz genau, wie sehr ich sie geschätzt habe. Ich
glaube, ich hab das alles noch nicht richtig begriffen. Das
Einzige, was mir im Moment im Kopf herumgeht, ist, wo wir eine
Vertretung für die anstehenden Operationen herkriegen
sollen.« Er lächelte besänftigend. »Solche
Dinge sind leichter zu bewältigen.«
Dís
entgegnete sein Lächeln. »Ich weiß. Darüber
habe ich auch schon nachgedacht.« Sie zog ihre Hand weg und
legte sie in ihren Schoß. Es war ihr unangenehm, seine Haut
zu berühren. Wenn ihre Hände in Latexhandschuhen
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