Das Gluehende Grab
weiß nicht, wohin und
wie lange. Ich hab die ganze Zeit geweint, weil ich dachte, sie
käme nie wieder zurück.«
»Würdest
du diese Aussage bei der Polizei wiederholen?«, fragte
Dóra erleichtert. Das ging zumindest in die richtige
Richtung.
»Ja, ich
denke schon. Vielleicht erinnert sich meine Mutter auch daran. Sie
ist bestimmt eine bessere Zeugin. Ich war ja noch ein Kind.«
Jóhanna spielte mit ihrem Teelöffel. »Im
Augenblick {112 }ist sie wegen Alda nicht gut ansprechbar, aber ich
hoffe, sie fängt sich wieder. Mein Vater ist erst vor kurzem
nach einer langen Krebserkrankung gestorben; sie hat also dieses
Jahr schon einiges durchgemacht.«
»Ich
verstehe«, sagte Dóra. »Ihr seid doch nach dem
Vulkanausbruch in die Westfjorde gezogen. Wie war Alda damals?
Weißt du noch, ob sie sich irgendwie verändert hat? Sich
anders verhalten hat als sonst?«
Jóhanna
schüttelte den Kopf. »Nein, kann ich nicht sagen. Alda
ist dann bald ins Internat gekommen, und ich hab sie nicht oft
gesehen. Natürlich war sie, wie die ganze Familie, ziemlich
unter Schock.«
»Auf
welches Internat ist sie gegangen?«
»Aufs
Gymnasium in Ísafjörður, glaube ich
zumindest«, antwortete Jóhanna.
Das klang
merkwürdig. »Ihre Freundinnen haben mir erzählt,
sie ist aufs Gymnasium in Reykjavík gegangen. Stimmt das
nicht?«
»Doch,
doch. Sie hat im Herbst die Schule gewechselt. Wollte lieber nach
Reykjavík, als in den Westfjorden zu bleiben. Der Rest der
Familie ist ja wieder zurück auf die Insel gegangen.«
Wie hätte
Alda mitten im Winter eine Klasse höher eingestuft werden
können? Markús war gleichaltrig und in derselben Klasse
und noch nicht auf einer weiterführenden Schule, als der
Vulkan ausbrach. »War Alda eine gute Schülerin,
Jóhanna?«
»Ja,
sehr. Sie war immer unglaublich gewissenhaft und fleißig. Das
Lernen hat ihr Spaß gemacht. Im Gegensatz zu mir.« Ein
Lächeln huschte über Jóhannas Gesicht.
»Komisch. Ich hab mir den Kopf darüber zerbrochen, was
mit Alda passiert sein könnte, aber ich wäre nie auf die
Idee gekommen, dass es etwas mit den Leichen zu tun hat. Ich war
mir so sicher, dass es mit ihrem Job in der Notaufnahme
zusammenhängt. Dass einer dieser widerwärtigen
Vergewaltiger sie überfallen und getötet
hat.«
»Wie
gesagt, da muss keine Verbindung bestehen«, meinte {113
}Dóra. »Vielleicht hat der Leichenfund überhaupt
nichts mit Aldas Tod zu tun.«
»Doch,
ich bin mir ganz sicher«, entgegnete Jóhanna
entschieden und verschränkte die Arme.
»Diese
Vergewaltiger – hatte Alda mit denen persönlich zu tun?
Ich dachte, sie hätte sich nur um die Opfer
gekümmert.« Dass Alda nebenher in der Notaufnahme
gearbeitet hatte, hatte Dóra schon von Markús
erfahren.
»Das war
Unsinn, nur so ein dummer Gedanke von mir«, antwortete
Jóhanna. »Soweit ich weiß, ist sie mit ihnen nie
zusammengetroffen. Ich hab mir nur ausgemalt, dass einer von denen
ihren Namen rausgekriegt hat und sich rächen wollte. Sie ist
mindestens zweimal vor Gericht als Zeugin aufgetreten. Allerdings
hatte sie genug von dem Job und schon gekündigt, als es
passiert ist. Es war etwas vorgefallen. Sie wollte mich
nächstes Wochenende besuchen und mir unter vier Augen davon
erzählen.«
»Sie
wollte herkommen? Ihre Freundinnen haben erzählt, sie
wäre seit dem Vulkanausbruch nie wieder hier
gewesen.«
»Das
stimmt«, entgegnete Jóhanna. »Es war traurig
damals: Die Kinder haben sich nach der Evakuierung nicht getraut,
zu erzählen, wo sie herkommen. Man hat auf uns
heruntergeschaut und uns wie Schmarotzer behandelt. Die
Isländer sind nie besonders rücksichtsvoll mit
Notleidenden umgegangen, selbst wenn es ihre eigenen Landsleute
waren. Vielleicht wollte Alda deshalb einen gewissen Abstand zu den
Westmännerinseln.«
Dóra
hielt es für wesentlich wahrscheinlicher, dass Alda aufgrund
der dubiosen Sache mit dem Kopf nicht mehr auf die Insel
zurückwollte. »Hat sie durchblicken lassen, worüber
sie am Wochenende mit dir reden wollte?«
Jóhanna
schüttelte den Kopf. »Sie hat sich ziemlich
merkwürdig verhalten. Sie hat gesagt, sie hätte schon
längst mit mir darüber reden sollen, um ihr Gewissen zu
erleichtern.« Jóhanna verstummte und schien den
Tränen nahe. »Deshalb weiß ich, dass sie sich
nicht umgebracht hat. Unser Treffen war ihr so
wichtig.«
»Wann
hast du das letzte Mal von ihr
gehört?«
»An dem
Tag, als sie ... – Sie hat angerufen und erzählt, sie
hätte ein Flugticket
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