Das Gluehende Grab
Bücher nicht
mitnehmen sollte. Aber wenn die erst mal bei der Polizei waren,
würde sie sie nie mehr zu Gesicht bekommen. Trotzdem musste
sie sich als Anwältin korrekt verhalten. »Am besten
übergibst du die Tagebücher der Polizei«, sagte sie
und hielt Jóhanna die Tüte entgegen.
»Möglicherweise finden sich dort Informationen, die
für die Ermittlungen wichtig sind.«
Jóhannas
Gesicht verhärtete sich. »Guðni und Konsorten
kriegen die ganz bestimmt nicht. Kommt nicht in Frage. Das sind
private Aufzeichnungen meiner Schwester, als sie ein sensibler
Teenager war. Ich will auf keinen Fall, dass die an die
Öffentlichkeit gelangen.«
»Hast du
sie gelesen?« Dóra hielt immer noch die Tüte in
der Hand.
Jóhanna
schüttelte den Kopf. »Das bringe ich nicht fertig. Diese
Tagebücher waren ihr Ein und Alles. Ich durfte noch nicht mal
in ihre Nähe kommen, obwohl ich noch gar nicht lesen konnte.
Ich ... ich möchte Aldas Geheimnisse nicht wissen, wie banal
sie heute auch klingen mögen.« Sie schaute Dóra
flehend an. »Ich vertraue dir.«
Aldas
Schwester hatte sich offenbar etwas in den Kopf gesetzt, und
Dóra würde wohl nichts daran ändern können.
»Aber selbst wenn die Tagebücher Licht auf den Fall
werfen, ist damit nicht gesagt, dass sie Aldas Tod
erklären.«
»Das ist
mir bewusst«, entgegnete Jóhanna, aber ihr Gesicht
sprach eine andere Sprache. »Vielleicht findest du gar
nichts. Vielleicht nur ein bisschen. Das wird sich zeigen.«
Sie griff nach Dóras Hand. »Wenn du nichts findest,
was die Polizei wissen muss, gibst du mir die Bücher einfach
zurück, und niemand erfährt etwas
davon.«
Dóra
betrachtete die Frau einen Moment. Wie gestern trug sie einen
schlichten Hosenanzug und eine grüne Bluse, die überhaupt
nicht zu dem blauen Anzug passte. In ihrem Mundwinkel klebte ein
Zahnpastarest. Sie tat Dóra leid. »Ich lese es mir
durch, aber ich muss der Polizei alles aushändigen, was mit
dem Fall zu tun hat.« Sie warf einen Blick in die Tüte.
»Es wäre natürlich besser, wenn du es selbst lesen
würdest.«
Jóhanna
schüttelte heftig den Kopf, sodass ihre ohnehin schon wirre
Frisur völlig aus der Form geriet. »Nein. Das will ich
nicht. Vielleicht findest du das lächerlich oder feige, aber
es ist nicht nur die Loyalität zu meiner Schwester, die mich
davon abhält.« Sie atmete tief ein. »Es hat mit
dem Verhältnis zwischen Alda und unserem Vater zu tun. Soweit
ich weiß, haben sie nie mehr miteinander gesprochen. Ich
möchte lieber nicht wissen, was zwischen den beiden
vorgefallen ist. Weil ... Ich habe Angst, mein Vater könnte
ihr etwas Unverzeihliches angetan haben. Ich möchte {133
}beide so in Erinnerung behalten, wie ich sie gekannt habe. Es ist
sowieso zu spät, etwas rückgängig zu machen. Sie
sind beide tot.«
Dóra
nickte. Sie konnte die Frau verstehen, angesichts der zunehmenden
Inzestfälle, die an die Öffentlichkeit drangen. »Du
kannst mir vertrauen. Bevor ich etwas weitergebe, setze ich mich
mit dir in Verbindung.«
Jóhanna
lächelte erleichtert. »Gut.« Sie schaute auf die
große Wanduhr an der Rezeption. »Oh Gott, ich muss mich
beeilen.«
Dóra
sah der Frau nach, wie sie durch die Hoteltür hastete und um
die Ecke verschwand. Die Tüte lag schwer in Dóras
Händen. Sie konnte es kaum erwarten, die Tagebücher zu
lesen. Aber Matthias’ Worte über den Hass echoten in
ihrem Kopf. Und schon war sich Dóra gar nicht mehr so
sicher, ob sie den Grund für diese schrecklichen Ereignisse
wirklich erfahren wollte.
Bella
ließ sich neben Dóra an einen Tisch plumpsen. Mit dem
Daumen zeigte sie hinter sich auf einen Flughafen-Kiosk, wo
Getränke verkauft wurden. »So ein Mist. Sie hatten
keins.« Bella drehte sich um und warf dem Verkäufer
einen bösen Blick zu. »Und das soll ein Flughafen
sein!«
»Der
Flug dauert nur zwanzig Minuten, Bella«, sagte Dóra
gereizt. »Die wirst du ja wohl ohne Nikotinkaugummi
überleben.« Bella warf ihr einen bösen Blick zu.
»Wir werden bestimmt gleich aufgerufen.« Nicht nur
Bellas Art, sondern auch die Aussicht, sich in die Tagebücher
zu vertiefen, verstärkten Dóras
Ungeduld.
»Die
haben’s nicht eilig«, nörgelte Bella. »Wir
haben die Tickets ja schon bezahlt. Die fliegen schon nicht ohne
uns los.« Sie stand auf. »Ich geh eine
rauchen.«
Dóra
war froh, alleine zu sein, aber noch froher, als kurz darauf der
Abflug der Maschine nach Reykjavík angekündigt wurde.
Sie erhob sich und holte Bella vom Vorplatz
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