Das Götter-Opfer
anderes.«
»Was denn?«
Jane griff zur Tasse und trank einen Schluck Tee. »Ich kann es dir nicht einmal genau beschreiben. Ich würde eher von einer gewissen Schlappheit sprechen. In ihrem Körper könnte sich ein Kampf abspielen. Nützt es euch etwas, wenn ich von zwei verschiedenen Kräften spreche? Das ist kein Evangelium, ich hatte einfach nur den Eindruck. Selima kommt mir wie eine Person vor, die selbst nicht genau weiß, wer sie ist.«
»Stimmt«, sagte ich.
»Gut, dann liege ich nicht falsch.«
»Könnt ihr beiden jungen Hüpfer mir das mal genauer erklären?« fragte Sarah.
»Gern!« Ich lächelte ihr zu. Zugleich hatte ich nach der Karaffe mit dem Cognac gegriffen und mir auch ein Glas genommen. Es stand alles in Griffweite. Sarah hatte immer einen guten Drink im Haus, und ich füllte den Boden des Schwenkers. Nach dem ersten genußreichen Schluck begann ich zu sprechen.
»Es mag sich verrückt und auch unglaublich anhören, aber ich werde den Eindruck nicht los, daß Selima sich zwischen zwei Zeiten bewegt. Zum einen drängt die Vergangenheit immer mehr hoch, zum anderen steht die Gegenwart dagegen.«
»Dann gehst du hundertprozentig davon aus, daß Selima schon einmal gelebt hat?«
»Ja, Jane. Im alten Ägypten. Vor viertausend oder mehr Jahren. Daß die Vergangenheit bei ihr stärker ist als die Gegenwart, erkenne ich daran, daß sie mir auf die Frage nach ihrem Alter die Antwort viertausend Jahre gab. Das ist doch schon ein Beweis dafür, daß sich gewisse Dinge hervorschieben. Ihre damalige Existenz ist dabei, die neue immer mehr in den Schatten zu stellen.«
»Und sie ist damals das Götter-Opfer gewesen«, stellte Lady Sarah fest.
»Genau.«
»Was ich allerdings nicht so recht begreife.«
»Warum?«
»Es liegt einzig und allein am Begriff Opfer. Wäre sie ein Götter-Opfer gewesen, dann würde sie heute nicht mehr existieren. Dann hat man sie geopfert.«
»Falsch gedacht!« rief Jane.
»Warum?«
»Sie kann damals durchaus gestorben sein, um dann wiedergeboren zu werden.«
Sarah lächelte hintergründig. »Das habe ich schon bedacht. Ich wundere mich nur darüber, daß sie sich auch heute als Opfer fühlt. Wenn das eine Opfer doch schon gewesen ist, brauchte es heute nicht mehr wiederholt zu werden. Oder?«
Jane und ich schwiegen zunächst. Irgendwie hatte Sarah Goldwyn mit ihren Überlegungen schon recht. Es war eine ziemlich vertrackte Lage. »Oder soll sie zum zweitenmal geopfert werden? In ihrer neuen Existenz? Das ist auch möglich«, sagte ich.
Jane Collins lächelte mich schief an. »Was ergäbe cias für einen Sinn?«
»Keine Ahnung.«
»Es wäre auch gut zu erfahren«, meldete sich Sarah Goldwyn, »wer sie damals gewesen ist.« Sie blickte mich an. »Du bist mit ihr länger zusammen gewesen, John. Hat sie dir nichts erzählt?«
»Nein. Das ist es ja gerade. Sie sprach wohl einmal vom Tal der Könige. Aber diese Bemerkung fiel irgendwie nur wie nebenbei. Es gibt da schon Rätsel.«
»Einschließlich der unbekannten Anruferin«, fügte die Detektivin hinzu.
»Klar.«
Lady Sarah stand auf. »Du kennst ihren Namen, John, aber wir wissen nicht, wer sie damals gewesen ist. Im Moment haben wir Zeit. Wie wäre es denn, wenn wir nach oben ins Archiv gingen und dort nachforschten? Literatur über Ägypten habe ich. Es kann durchaus sein, daß wir auf den Namen Selima stoßen.«
Die Idee war nicht schlecht. Ich klatschte der Horror-Oma leise Beifall.
»Dann laßt uns gehen.«
Wenn Lady Sarah einmal einen Entschluß gefaßt hatte, setzte sie ihn auch sofort in die Tat um. Das erlebten wir hier. Noch vor uns erreichte sie die Tür. Obwohl mittlerweile ein schmaler Lift eingebaut worden war, ließ Sarah es sich nicht nehmen, die schmale Treppe selbst hochzusteigen. In der ersten Etage blieb sie stehen und wartete auf uns. In diesem Bereich lag auch Janes kleine Wohnung, und auch das Gästezimmer befand sich dort. Die Leuchte an der Decke war noch dunkel, und nur die an der Wand gab einen schwachen Lichtschein ab.
»Es ist wohl besser, wenn wir mal nachschauen«, schlug Sarah mit leiser Stimme vor.
»Okay.«
Sie öffnete die Tür, warf einen Blick in das Zimmer, drückte dann die Tür weiter auf und trat zurück, damit auch wir hineinschauen konnten.
»Ich habe auf ihren Wunsch hin die Lampe auf dem Nachttisch brennen lassen«, sagte Jane.
Draußen begann es dunkel zu werden. Das schon am späten Nachmittag. Die Vorhänge waren vor die Scheibe gezogen. Beide Hälften
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