Das Götter-Opfer
und senkten sich von der Decke her auf sie nieder.
Alles war anders geworden. Aus einer längst vergessenen und fremden Welt schob sich etwas in die ihre hinein. Ja, die Decke war noch vorhanden. Aber sie wurde für die liegende Frau durchsichtig oder zu einer Leinwand, denn über sie hinweg wanderten Schatten. Zugleich öffnete sie sich wie ein gewaltiger Kuppelbau, und aus dem Hintergrund drückte sich eine Szene hervor.
Plötzlich fing Selima an zu zittern. Nur innerlich vibrierte sie. Die Atemstöße drangen jetzt heftiger aus ihrem Mund, und sie spürte die Luft warm an der Nase entlangstreichen. Die Wirklichkeit war für sie entrückt. So bekam sie nicht einmal mit, daß die Zimmertür geöffnet wurde und drei Gesichter abwechselnd in den Raum schauten.
Selima wußte, daß sie nicht schlief. Aber sie wußte auch, daß sie nicht wach lag. Sie befand sich in einem Zwischenstadium. Etwas in ihr war auf die Reise gegangen. Die Seele, der Geist, sie konnte es sich beim besten Willen nicht erklären.
Selima war zu einem Spielball der Kräfte geworden, auf die sie keinen Einfluß hatte.
Nach wie vor war die Musik vorhanden. Die Laute aus der Flöte, die so hohl und wunderlich klangen, als wäre ein Totenwind dabei, durch sie zu streifen.
Ein unheimlicher Ruf aus einer Totenwelt. Ebenso unheimlich wie die Stimmen der unsichtbaren Sänger. Von der Decke her regnete der Schall zu ihr herab, doch sie konnte nichts sehen.
Bis sich noch mehr veränderte. Und diese Veränderung blieb nicht allein auf die Decke beschränkt, denn Selima sah etwas, das sich allmählich von oben nach unten senkte und jetzt das gesamte Zimmer einnahm. Zuerst nahm sie es nur als einen Schleier wahr, wenig später allerdings begann er sich zu verändern.
Aus dem Schleier hervor schälten sich Umrisse großer und gewaltiger Gegenstände. So sah sie plötzlich zwei Säulen, die wie starre Wächter aussahen.
Wächter für eine unheimliche und auch sehr große und überaus häßliche Gestalt.
Auf einmal steckte die Angst in ihr. Selima zuckte. Die Hände verkrampften sich zu Fäusten, und hinter der Stirn sowie hinter den Augen erlebte sie einen starken Druck. Auch wenn sie es gewollt hätte, es wäre ihr nicht möglich gewesen, die Augen zu schließen. Eine andere Kraft sorgte dafür, daß sie offen blieben und Selima auch sehen konnte.
Ein goldener Schein fiel auf das Bild, das sich verändert hatte. Der Hintergrund war geblieben, doch von vorn her bewegte sich eine fast nackte Frauengestalt auf die Mitte zwischen den beiden Säulen zu.
Die Frau trug um die Hüfte einen mit Ornamenten verzierten und bestickten Gürtel. An der Rückseite war ein mit den gleichen Motiven bestickter Schal angebracht, der bis zu den Oberschenkeln herabfiel.
Die Frau hatte blonde Haare. Der Körper wies eine gewisse Bräune auf, und die Frau ging auf ihren nackten Füßen tiefer in den unheimlichen Tempel hinein.
Selima kannte die Frau.
Es war sie selbst, die Schritt für Schritt einem schrecklichen Ende entgegenging…
***
Nach wie vor war sie vom Zentrum des Tempels genügend weit entfernt. Die Frau konnte auch nicht so viel sehen, denn zwischen den beiden mächtigen Säulen waberte der bleiche Dunst. Die Stimmen und die Musik schienen aus ihm hervorzudringen, aber die Luft klärte sich und der Dunst verschwand allmählich, wie von einem mächtigen Maul zur Seite gepustet. Die blonde Frau erhielt einen freien Blick auf das, was dort stand – und erschrak.
Nein, das war kein einfaches Erschrecken. Regelrechte Angststöße durchflossen den Körper der Frau und auch den der liegenden Selima. Auch sie hatte denjenigen erkannt, der auf sie wartete. Es waren Gefühle auf zwei Seiten entstanden, und von beiden Seiten her flössen diese Gefühle aufeinander zu. So fühlte Selima mit dieser Person, die ja sie selbst war. Sogar das Aussehen stimmte. Sie war so wiedergeboren worden wie das Götter-Opfer ausgesehen hatte.
Es war kein Gesang mehr zu hören und auch keine Musik. Alles war in dieser von Angst gebildeten Kälte erstarrt, denn jetzt zählte nur das eine Bild.
Es stellte den Götzen dar.
Ein furchtbares Monument. Eine große Figur mit flammend roten Haaren und einem furchtbaren Gesicht. Es war die Physiognomie einer Bestie, beinahe nicht zu beschreiben, weil es einfach kein Monstrum mit diesem Aussehen gab, das auf der normalen Welt lebte. Selbst der gespaltene Schwanz fiel auf. Er lag zusammengeringelt auf dem Boden.
Der Götze strahlte etwas aus,
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