Das göttliche Dutzend
Großstadtpropheten zu einem erneuten Arbeitstag auf ihren Sitzgelegenheiten Platz. Grunzend und ächzend, in verschiedenen Stadien der Altersschwäche, versammelten sich die fünf Uralten um den riesigen, hübsch verzierten Marmortisch und fingen an, ihre Omenknochen anzuwärmen. Einige von ihnen schüttelten die seltsamen Runenwürfel aus Lamaschenkelknochen, andere umhüllten sie mit ihren arthritischen Händen und pusteten sie an, während ein gewisser Hauptmann Zuphall die Toga hob und sich seine drei Würfel fest zwischen die Arschbacken klemmte.
Er glaubte, daß das Leben einfach zu ungerecht war, wenn man der Zukunft keinen Vorgeschmack von der Art seiner persönlichen Wurftechnik gab. Es muß jedoch gesagt werden, daß Hauptmann Zuphall trotz – oder wegen – seiner fast neunzigjährigen Amtszeit als Stadtprophetenvorsitzender, der jede Vorhersageart unter der Sonne kannte, sich zu einer Art Pessimist entwickelt hatte. Gerüchten zufolge wurde Axolotl nämlich an dem Tag von einer Katastrophe heimgesucht, an dem Zuphall eine positive Prophezeiung machte. Ob das Gerücht stimmte, wußte freilich niemand. Zuphall hatte nie etwas vorhergesagt, das ansatzweise so positiv war, daß man sich Sorgen machen mußte.
»Na schön, Spekulatius, dann fang mal an«, krächzte Hauptmann Zuphall gereizt und ließ sein Gebiß pfeifen. »Wird Zeit, daß wir in Erfahrung bringen, was das Schicksal für unsere geliebte Stadt auf Lager hat.«
Der vergleichsweise muntere Spekulatius erhob sich mit knarrenden Knochen auf seine sechzig Jahre alten Beine, schlurfte an den Kopf des langen dünnen Marmortisches und warf seine drei Omenknochenwürfel.
Er brabbelte leise etwas vor sich hin, schlurfte ans andere Ende des Tisches, schielte die Runen an, wischte sich die Nase ab und dachte über die prophezeiende Bedeutung des Resultats nach.
»Na?« quäkte Zuphall nach zehn Minuten langer peinlicher Stille. »Gibt’s Probleme?«
Spekulatius ließ die Schultern sinken und schaute auf. Sein von Altersflecken übersätes Gesicht gab sich alle Mühe, ein Erröten seiner beruflichen Schande zu tarnen. »Ich … Ich … weiß nicht, was es bedeutet«, gestand er schließlich kaum hörbar ein.
»Was?« fauchte Hauptmann Zuphall und legte eine Hand hinter sein Ohr. »Was haste gesagt? Was haste gesagt?«
Die drei anderen Propheten am Tisch blickten einander nervös an. Sie wagten nicht zu glauben, was sie gerade vernommen hatten. Ein Prophet, der seine eigenen Zeichen nicht deuten konnte … An so was durfte man nicht mal denken. Es sprach gegen alles, was die axolotische Kultur ausmachte. Ohne Blick in die Zukunft waren sie völlig blind. Alles, was sie für stimmig hielten, mußte garantiert vor ihren rheumatischen Augen zerbröseln.
War der Riß in der Decke schon vorher da gewesen?
»Was hat er gesagt?« krächzte Zuphall.
Spekulatius’ Knöchel wurden dort weiß, wo seine Hände den Tischrand umklammert hielten, und sein Blick schweifte von dem vorwurfsvollen Trio der unergründlichen Runen zu dem gereizten Stirnrunzeln auf Zuphalls Miene.
»Es ist bedeutungslos …« keuchte Spekulatius. »Völlig unergründlich. Ich habe nicht die geringste Ahnung!«
»Unmöglich!« fauchte der Hauptmann. »Setz deine Hirnzellen in Gang! Aber dalli! Außerdem wird es Zeit für das Morgenbrötchen!«
»Ich kann nicht.« Spekulatius zitterte. Er spürte wohl, daß er dem Ende seiner langen und erfolgreichen Laufbahn entgegenschaut, bevor die Brötchen eintrafen.
»Das darf doch nicht wahr sein!« fauchte Hauptmann Zuphall, schob seinen Bambusstuhl zurück und schlurfte ans Ende des Tisches. Jeder Schritt wurde von einem Pfeifen seines Gebisses und seinem quietschenden Atmen begleitet. Die anderen Propheten schauten erstaunt zu. Das war zweifellos noch nie passiert.
»Und so was nennt sich nun Prophet«, knurrte Zuphall, als er sich hustend um den Tischrand schwang. Spekulatius ließ den Kopf hängen und betrachtete beschämt seine Halbschuhe.
Der Hauptmann kneiste durch seinen grauen Star und zwang die Runen, halbwegs scharf zu werden. Die Luft im Saal schien sich in erwartungsvollen Sirup zu verwandeln, als sein verblassender Geist an der Bedeutung der Symbole zerrte und mit den geometrischen Anordnungen, Kurven und Positionierungen ihrer Bedeutung stritt. Es war, ehrlich gesagt, ganz schön schwer, aber das hätte er natürlich nie zugegeben. Er riß seine gesamte, fast neunzigjährige Erfahrung zusammen, legte sein ohnehin schon
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