Das göttliche Mädchen - Carter, A: Das göttliche Mädchen
beäugte. Ich war in dem Sessel zusammengesunken, in dem Henry normalerweise saß, und hielt mir mit beiden Händen den Kopf.
„Nein“, entgegnete ich und verzog das Gesicht. „Mir geht’s gut. Gebt mir nur noch eine Minute, okay?“
Sie hatten mich gezwungen, ein weißes Kleid zu tragen, und vor Angst, mir die Nähte aufzureißen, traute ich mich nicht, mich zu bewegen. Das einzig Gute an diesen Wunden war, dass ein Korsett nicht infrage kam. Doch das bedeutete gleichzeitig, dass nur sehr wenig den weißen Stoff von meinen Verbänden trennte. Eine falsche Bewegung, und ich würde mit blutüberströmter Brust vor dem Rat stehen.
„Soll ich Henry holen?“, fragte Ella. Sie hielt weiterhin Abstand zu Ava, doch seit dem Vorfall am Fluss schien sie sich Mühe zu geben, sie zu tolerieren. Wahrscheinlich half es bei dem Ganzen nicht unbedingt, dass Ava und Theo wieder zusammen waren, aber Ella versuchte sich nichts anmerken zu lassen. Das rechnete ich ihr hoch an.
„Nicht nötig“, erklang eine tiefe Stimme. Ich hob das Gesichtweit genug aus den Händen, um Henry in der Tür stehen zu sehen. „Mädchen, ihr seid fürs Erste entlassen.“
Schnell verschwanden sie, obwohl Ava noch kurz innehielt, um mir einen Kuss auf die Wange zu geben. „Viel Glück“, wisperte sie, und dann war sie fort.
Henry war an meiner Seite, bevor ich mich aufrichten konnte.
„Geht es dir gut?“
„Ich glaub, ich muss gleich kotzen.“
Sein Mundwinkel zuckte. „Genau wie ich.“ Er reichte mir die Hand, und ich ergriff sie, vollkommen auf ihn angewiesen, um mein Gleichgewicht zu halten, während ich aufstand. Nie im Leben würde ich es bis zum Ballsaal schaffen, wo die Sitzung stattfinden sollte.
„Muss ich Schuhe tragen?“, fragte ich mit einem Blick auf die High Heels, die Ava für mich ausgesucht hatte.
„Dein Kleid ist lang genug, dass der Saum deine nackten Füße verdecken dürfte“, beruhigte mich Henry. Nach einem kurzen Zögern fuhr er leise fort: „Kate, bist du dir sicher?“
„Dass ich keine Schuhe tragen will? Aber so was von. Ich kann so schon kaum gehen.“
„Nein, ich meine – bist du sicher, dass du mein Angebot nicht annehmen willst?“
Niemals Henry wiedersehen oder nach Eden Manor zurück-kommen. Mir fiel beim besten Willen nichts ein, was ich weniger wollte.
„Bin ich“, erwiderte ich und lehnte mich an ihn. „Wenn wir nicht bald losgehen, kommen wir zu spät. Ich bin grad nicht unbedingt so in Form, dass ich die Flure hinuntersprinten könnte.“
„Mach dir darüber keine Sorgen.“ Er strich mir mit seinen warmen Fingerspitzen über die Wange. „Sind dir die Konsequenzen von Versagen und Bestehen bewusst?“
„Wenn ich versage, muss ich ohne jede Erinnerung zurück in die normale Welt.“ Und Henry würde im Nichts vergehen. „Wenn ich bestehe, häng ich hier sechs Monate im Jahr mit dir rum.“
„Bis in alle Ewigkeit, außer du möchtest dein Leben beenden“, ergänzte Henry. „Du wirst für immer bleiben, wie du heute bist, und der Rat wird dir die Unsterblichkeit gewähren. Das ist keine leichte Sache, die Unsterblichkeit. Du wirst Beziehungen zu Sterblichen aufbauen, und du wirst sie um ein Vielfaches überleben. Es wird niemals ein Ende geben. Dein Leben wird immer weitergehen, und irgendwann wirst du den Bezug zum Menschsein verlieren. Du wirst vergessen, wie es war, lebendig zu sein.“
Der Gedanke an die Ewigkeit war beängstigend – damit verschwand die eine, einzige Sicherheit im Leben: der Tod. Aber wozu war der Tod schon gut? Alles, was er brachte, war Schmerz, und davon hatte ich genug für die nächsten zehntausend Leben erlebt.
„Tja, dann schätze ich mal, es ist gar nicht schlecht, dass meine beste Freundin schon tot ist, oder?“
„Ja“, gab er düster zu. „Da hast du ziemliches Glück.“
„Keiner hat je behauptet, das hier würde einfach werden“, sagte ich. „Das weiß ich.“
„In der Tat“, erwiderte er, den Blick auf etwas gerichtet, das ich nicht sehen konnte. „Und dir ist klar, dass dein Bestehen auch bedeuten würde, dass du und ich heiraten?“
Ich wusste nicht, ob der Schauer, der mir über den Rücken lief, der Nervosität oder Vorfreude geschuldet war.
„Ja, das hatte ich zwischenzeitlich mitgekriegt. Es macht dir nichts aus, oder? Ich meine, das geht ja alles ein bisschen schnell.“
Er lächelte. „Nein, es macht mir nichts aus. Dir?“
Machte es mir etwas aus? Ich war noch lange nicht bereit, irgendjemandes Frau oder
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