Das göttliche Mädchen - Carter, A: Das göttliche Mädchen
alles in Ordnung ist?“
„Mir geht’s gut“, log ich. James lächelte traurig.
„Ich komm vorbei und hol dich ab, morgen ganz früh.“
„Ich geh nicht zur Schule.“
„Ich weiß.“ Unverwandt sah er mich an. „Ich bring dich ins Krankenhaus.“
„James … Du musst das nicht tun.“
„Ist das nicht das, was Freunde füreinander tun?“ Es schmerzte, die Unsicherheit in seiner Stimme zu hören. „Du bist meine Freundin, Kate, und es geht dir furchtbar. Was, um alles in der Welt, könnte wichtiger sein, als mich um dich zu kümmern?“
Ich zitterte am ganzen Körper, und es war bloß noch eine Frage der Zeit, bis ich anfangen würde zu heulen. Da ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte, lehnte ich mich hinüber zum Fahrersitz und schlang die Arme um James. Einen Freund wie ihn hatte ich noch nie gehabt. Jemanden, der seinen Tag dafür opfern würde,mit mir am Sterbebett meiner Mutter zu sitzen. Ich war in der Erwartung nach Eden gekommen, am Ende allein zu sein, und stattdessen hatte ich James gefunden. Hatte es je einen Grund gegeben, in Eden zu bleiben, so war er es.
„Nimm wenigstens das Auto“, murmelte ich an seiner Schulter. „Du solltest nicht im Dunkeln nach Hause laufen.“
Ich spürte, wie er zum Widerspruch ansetzte, löste mich von ihm und warf ihm einen warnenden Blick zu. Er hielt inne und nickte nur. „Danke.“
Als ich endlich aus dem Wagen kletterte, war ich eine verrotzte, tränenüberströmte Katastrophe, aber das war mir egal. Neben dem Weg fiel mein Blick auf den kahlen Fleck, den wir vom Unkraut befreit hatten, das immer noch in einem wirren Haufen auf dem Rasen lag.
„Wir sehen uns morgen“, hörte ich James’ Stimme von der Einfahrt her. Ich nickte, nicht in der Lage, ein Wort hervorzubringen, und winkte ihm zum Abschied zu. Mit letzter Kraft zwang ich mich zu einem Lächeln.
Als ich das Haus betrat, zitterten meine Hände. Doch ich wusste, es war sinnlos, sich vor einem leeren Haus zu fürchten. Egal, wie sehr der Duft meiner Mutter noch in der Luft lag. Ich würde noch für eine sehr lange Zeit allein leben.
Apathisch wanderte ich durch die Flure, strich mit der Hand über jede Oberfläche, an der ich entlangging, blicklos in die Dunkelheit starrend, die vor mir lag. Diese Nacht bedeutete das Ende des einzigen Kapitels meines Lebens, das ich je gekannt hatte, und ich wusste nicht, wie ich die auf mich wartende Leere über-leben sollte.
Als es um Mitternacht an der Tür klingelte, lag ich zusammengerollt im Bett meiner Mutter, immer noch in derselben Kleidung, in der ich zur Schule gefahren war. Erst als es ein zweites Mal geklingelt hatte, konnte ich mich dazu aufraffen, zur Tür zu gehen – und selbst dann ließ ich mir noch Zeit dafür, hievte mich mühsam aus dem Bett und schlurfte langsam die Treppe hinunter.Das Kissen meiner Mutter an die Brust gedrückt, öffnete ich die Tür und erwartete, James zu sehen.
Es war Henry.
Mein Magen rutschte irgendwo in Richtung Knie, und der Nebel, der meinen Kopf erfüllt hatte, löste sich in Luft auf.
„Hallo, Kate.“ Seine Stimme klang süß wie Honig, und plötz-lich war ich mir unangenehm bewusst, wie schrecklich ich aussah. „Erinnerst du dich noch an mich?“
Wie hätte ich ihn vergessen können? „Ja“, brachte ich heiser hervor. „Du bist Henry.“
„Das bin ich.“ Hinter seinem Lächeln erhaschte ich einen Blick auf etwas Trauriges. Etwas, das ich nur allzu gut nachempfinden konnte. „Das ist mein Butler Walter.“
Ich betrachtete den zweiten Mann, meine Hand immer noch fest um den Türknauf geschlossen. Er war älter, sein Haar grau und die Haut von Falten durchzogen. Sein blasses Gesicht wirkte abgespannt.
„Hi“, murmelte ich unsicher.
„Hallo, Miss Winters.“ Er lächelte warm. „Dürfen wir eintreten?“
Es machte keinen Sinn, darüber nachzugrübeln, ob sie nun hier waren, um mich zu entführen oder nicht. Ava hatte recht: Wäre das Henrys Plan gewesen, läge ich schon längst gefesselt und geknebelt in einem Van. Außerdem spielte es sowieso keine Rolle mehr. Nickend öffnete ich die Tür weit genug, dass sie hereinkommen konnten.
Nervös führte ich sie ins Wohnzimmer. Nachdem ich das Licht angemacht hatte, setzte ich mich in den Sessel und ließ den beiden damit keine andere Wahl, als auf dem Sofa Platz zu nehmen. Henry ließ sich nieder, als wäre er schon tausendmal hier gewesen, und im Licht konnte ich sein Gesicht endlich genauer betrachten. Er sah genauso jung und
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