Das göttliche Mädchen - Carter, A: Das göttliche Mädchen
abgelenkt.
„Tu mir einen Gefallen, und pass heute Nacht auf dich auf, okay? Mach nichts Dummes, wie auf Leitern zu klettern oder Löwen zu streicheln oder so was.“
Sie lachte. „Klar, was immer du sagst. Ich ruf dich morgen früh an. Grüß deine Mom von mir.“
Nachdem wir aufgelegt hatten, konnte ich nicht schlafen. Stattdessen beobachtete ich meinen Wecker, wie er von 11:59 auf 12:00 sprang, und eine erdrückende Furcht ergriff von mir Besitz. Was, wenn Ava etwas geschah? Was sollte ich dann tun? Es wäre mein Fehler. So unwahrscheinlich es auch gewesen war, sie war meine Freundin geworden, und ich hätte sie vor solchen Dingen beschützen sollen, statt mich dem Mann zu widersetzen, der offensichtlich dachte, sie schuldete ihm das Leben. Oder dass ich ihm meins schuldete.
Ich wollte nicht über Henry nachdenken. Ich wollte nicht darüber grübeln, wie er sie in jener Nacht am Fluss zum Leben erweckt hatte, und ich wollte nicht an sein Angebot denken. Vergeblich versuchte ich, mir das Gesicht meiner Mutter vor Augenzu rufen, doch das einzige Bild, das auftauchte, war das, wie sie sterbend in ihrem Krankenhausbett lag.
Ich wälzte mich auf die andere Seite und vergrub das Gesicht in meinem Kissen. Jetzt konnte ich nichts mehr tun, und dieses Gefühl der Machtlosigkeit zerriss mich förmlich. Doch ich hatte meine Entscheidung getroffen, und ich würde dabei bleiben. Wenn es nach mir ginge, würde ich Henry niemals wiedersehen.
Um halb sieben am nächsten Morgen wurde ich von lauten Schlägen gegen die Haustür geweckt. Ich stöhnte, da ich erst kurz nach vier eingeschlafen war, aber ignorieren konnte ich den frühen Besucher nicht. Als ich wütend die Tür aufriss, vergaß ich die Flut von Schimpfwörtern, die mir auf der Zunge gelegen hatten. Es war James, und er sah aus, als hätte er in der Nacht kein Auge zugemacht. Ich ließ den Türknauf los und fuhr mir durch das zerwühlte Haar.
„James? Was ist los?“
„Es ist Ava.“
Ich erstarrte.
„Sie ist tot.“
6. KAPITEL
EDEN MANOR
In der Stadt ging das Gerücht um, Ava hätte ein Hirn-Aneurysma gehabt, aber ich wusste es besser. Als auf unserem Weg zum Krankenhaus die Schule in Sichtweite kam, bemerkte ich, dass sämt-liche Schüler auf dem Parkplatz versammelt waren. Alle lagen sich schluchzend in den Armen. Ich konnte den Blick nicht von ihnen losreißen.
„Dreh um.“
„Was?“
„Ich hab gesagt, dreh um, James. Bitte.“
„Und wo soll ich hinfahren?“
Ich starrte aus dem Fenster, unfähig, mich vom Anblick all der verzweifelten Gesichter zu lösen. Selbst die, die Ava gehasst hatten, weinten. Ich atmete flach und bemühte mich mit aller Kraft, die Tränen zurückzublinzeln.
Es war meine Schuld. Ava war siebzehn Jahre alt gewesen. Ihr gesamtes Leben hatte noch vor ihr gelegen, und jetzt war sie tot – meinetwegen. Wenn Henry sich jemanden hatte holen müssen, warum dann nicht mich? Ich war diejenige, die seine Warnung unbesonnen beiseite gewischt hatte, nicht Ava.
Ich kniff die Augen zu, als wir am Parkplatz vorüber waren. Das Bild der trauernden Menge hatte sich auf der Innenseite meiner Lider eingebrannt. Würde es mein ganzes Leben lang so sein? Dass alle, die ich kannte, starben? Würde James der Nächste sein – oder gnädigerweise ich selbst?
Unbändiger Zorn bemächtigte sich meiner, überstieg meine Schuld, bis ich mich so fest in die Armlehne krallte, dass meine Fingernägel kleine halbmondförmige Kerben im Leder hinterließen. Ava hatte das nicht verdient. Und egal, wie unsympathisch sie Henry gewesen war wegen des Streichs, den sie mir gespielt hatte, gab ihm das noch lange nicht das Recht, ihr, ihrer Familie und dieser Stadt so etwas anzutun. Und aus welchem Grund?Weil ich ihm nicht geglaubt hatte? Weil ich nicht die Hälfte vom Rest meines Lebens damit vergeuden wollte, den Launen eines Wahnsinnigen ausgeliefert zu sein? War es das, was er tat, wenn er nicht bekam, was er wollte – einen Tobsuchtsanfall bekommen und jemanden umbringen?
Ich ignorierte die leise Stimme in meinem Hinterkopf, die mich daran erinnerte, dass Henry der einzige Grund war, dass sie in jener Nacht am Fluss überhaupt überlebt hatte.
Es gab nichts, das ich tun konnte, um meiner Mutter zu helfen. Aber ich konnte Ava helfen. Und ich würde das in Ordnung bringen.
„Kate“, holte mich James sanft in die Realität zurück und legte seine Hand auf meine. „Es ist nicht deine Schuld.“
„Und wie es das ist“, fuhr ich ihn an und zog
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