Das göttliche Mädchen - Carter, A: Das göttliche Mädchen
dass er gesagt hat, was er ist.“
James seufzte. Ich tat ihm weh, aber ich hatte keine Wahl.
„Was glaubst du, was er ist?“
Ich runzelte die Stirn und erinnerte mich an Avas Worte. „Ein sehr einsamer Kerl.“ Und wenn man ehrlich war – hätte Henry mich töten wollen, hätte er es längst getan. Ich kannte einen Weg hinaus, falls er wirklich versuchen sollte, mich gefangen zu halten, doch wenn er mich wirklich hätte zwingen wollen, hätte er auch das schon am Tag zuvor getan. In Wahrheit hatte er mir die Wahl gelassen, und alles, was ich bisher getan hatte, war, die falscheEntscheidung zu treffen. Ich konnte Avas Tod entweder akzeptieren oder mich entschließen, etwas dagegen zu unternehmen – und ehrlich gesagt hatte ich genug davon, dass Menschen um mich herum starben. Ich würde es nicht noch einmal geschehen lassen.
Ich holte tief Luft, erinnerte mich an all die Versprechen, die ich meiner Mutter gegeben hatte, und wünschte, ich könnte mit ihr reden. Sie hätte gewusst, was zu tun war.
„Du passt auf meine Mom auf, nicht wahr?“
Offensichtlich wusste er es besser, als zu behaupten, sie würde immer noch da sein, wenn ich zurückkäme – wann auch immer das sein mochte.
„Ich versprech’s. Ich sag auch in der Schule Bescheid, dass du nicht wieder zum Unterricht kommst.“
„Danke.“ Das war immerhin schon mal eine Sorge weniger.
Die paar Schritte vom Auto zum Eingangstor waren die schwersten, die ich je gemacht hatte. Doch wenn es bedeutete, Ava zurückzubekommen, würde ich Henry meine Freiheit opfern. Er hatte recht gehabt: Ich hatte nichts außer meiner Mutter. Wenn sie erst fort war, wäre mein Leben völlig leer. Doch jetzt hatte ich die Chance, das, was von meiner bedeutungslosen Hülle eines Lebens noch übrig war, einzutauschen für jemanden, der das Beste daraus machen würde. Avas Leben hatte kaum begonnen. Die besten Zeiten von meinem lagen hinter mir. Meine Mutter wollte, dass ich in die Welt ging und mein Glück fand, doch das konnte ich nicht. Nicht ohne sie. Wenigstens würde das, was von mir noch übrig war, auf diese Weise nicht verschwendet.
Ich ging durch das Tor auf das Gelände, und die Atmosphäre veränderte sich sofort. Hier war es wärmer, und in der Luft lag eine Art Elektrizität, die ich nicht einordnen konnte. Als ich ein paar Schritte weiterging, hörte ich das Tor hinter mir dröhnend ins Schloss fallen und zuckte zusammen. Ich drehte mich um und sah James am Wagen stehen, den Blick auf mich gerichtet. Ich winkte, und über sein Gesicht huschte ein schmerzliches Lächeln.
Die Straße war von Bäumen in gleichmäßigen Abständen gesäumt und stieg sanft an. Ich brauchte ein paar Minuten, bis ichauf der Kuppe des Hügels ankam, doch als ich es geschafft hatte, blieb ich mit offenem Mund stehen. Was auch immer ich erwartet hatte, das war es nicht.
Ein riesiges Anwesen erhob sich vor mir, erstreckte sich weitläufig über das Gelände. Es war so groß, dass ich selbst von der Kuppe des Hügels aus nicht sehen konnte, was dahinter lag. Die Straße, der ich gefolgt war, war von hier an gepflastert und teilte sich, führte in einem perfekten Oval zur Vorderseite des Anwesens.
Gebäude wie dieses hatte ich bisher nur auf Bildern von europäischen Palästen gesehen, und ich war mir sicher, dass es nirgendwo sonst auf der Oberen Halbinsel – vielleicht in ganz Michigan nicht – einen solchen Ort gab. Es schimmerte weiß und golden und wirkte überaus majestätisch.
Während ich da so stand, brauchte ich einen Moment, um zu bemerken, dass ich nicht allein war. Ein Dutzend Gärtner und Arbeiter starrten mich an, und plötzlich wurde ich unsicher. Ich war durchs Tor gekommen … und nun?
In der Ferne sah ich eine Frau auf mich zueilen. Sie hielt ihren Rocksaum fest, während sie den Hügel zu mir hinaufstieg. Statt meinem Impuls nachzugeben, einen Schritt zurückzutreten, blieb ich eisern stehen, hin und her gerissen zwischen Ehrfurcht, Angst und Entschlossenheit. Egal, wie schön sein Zuhause war, ich musste Henry sehen – und zwar schnell.
„Willkommen, Kate!“, rief die Frau, und als ich ihre Stimme hörte, konnte ich es kaum fassen.
„Sofia?“
Und tatsächlich, als sie näher kam, erkannte ich in ihr die Krankenschwester, die mir die letzten Wochen über geholfen hatte, für meine Mutter zu sorgen. Ich starrte sie an, vollkommen geschockt. Doch Sofia tat so, als wäre das alles gar nichts Besonderes. Als sie schließlich bei mir war, waren
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