Das göttliche Mädchen - Carter, A: Das göttliche Mädchen
Möglichkeit, dass Henry meine Mutter retten könnte, derentwegen ich in Wirklichkeit hier war? Ich würde alles tun, was ich konnte, um Ava zu retten, doch sie war seit Stunden tot, und die gesamte Stadt wusste davon. Um sie ein zweites Mal zurückzu-bringen, würde Henry mit Sicherheit einen höheren Preis verlangen, und egal, wie mutig ich tat: Bei dem Gedanken, für den Rest meines Lebens hierbleiben zu müssen, drehte ich fast durch vor Angst. Ich hatte gemeint, was ich gesagt hatte – dass ich alles tun würde, was in meiner Macht stand, um Ava zurückzube-kommen. Doch selbst wenn James recht hatte und das nicht mehr möglich war: Meine Mutter war noch nicht tot. Es bestand immer noch die Chance, dass Henry etwas tun konnte, um sie zu retten.
Ich weiß nicht, wie lange ich dort saß, stumm und den leeren Blick auf ein Regal voller ledergebundener Bücher gerichtet. Im Kopf ging ich meine Rede noch einmal durch, wollte sichergehen, dass ich an alles denken würde, was ich sagen wollte. Zuhören musste er doch, oder? Und selbst wenn er das nicht wollte, wenn ich nur lange genug redete, würde er trotzdem hören, was ich zu sagen hatte. Ich musste es wenigstens versuchen.
Aus dem Augenwinkel bemerkte ich Henry in der Tür, ein mit Essen beladenes Tablett in den Händen. Ich krallte die Finger in die Sofapolster, und all die mühsam geübten Worte lösten sich in Luft auf.
„Kate“, sagte er leise, trat ein, stellte das Tablett auf dem Couchtisch vor mir ab und setzte sich auf das Sofa gegenüber.
„H…Henry“, brachte ich mühsam hervor und hasste mich fürmein Stammeln. „Wir müssen reden.“
Er neigte den Kopf, als würde er mir wortlos die Erlaubnis geben zu sprechen. Ich öffnete den Mund und schloss ihn wieder, wusste nicht, was ich sagen sollte. Während er wartete, goss er uns beiden eine Tasse Tee ein. Ich hatte noch nie Tee aus einer Porzellantasse getrunken.
„Es tut mir leid“, brachte ich mühsam hervor. „Dass ich gestern nicht auf dich gehört hab, meine ich. Ich hab nicht richtig nachgedacht, und ich hab nicht geglaubt, dass du das ernst meinst. Meine Mom ist wirklich krank, und ich hab einfach … Bitte. Ich bin hier. Ich werde bleiben. Ich tu, was immer du willst. Bring einfach nur Ava zurück.“
Er nahm einen Schluck von seinem Tee und bedeutete mir, ebenfalls zu probieren. Mit zitternden Händen nahm ich die Tasse.
„Sie ist siebzehn.“ Meine Stimme klang mit jedem Wort verzweifelter. „Sie sollte nicht auf ihr gesamtes Leben verzichten müssen, bloß weil ich einen dummen Fehler gemacht hab.“
„Der Fehler lag nicht bei dir.“ Er setzte die Tasse ab und fixierte mich. Seine Augen hatten immer noch diese bizarre Farbe von Mondlicht, und ich wand mich unter der Intensität seines Blicks. „Deine Freundin hat ihre Wahl getroffen, als sie sich entschieden hat, in den Fluss zu springen und dich allein zurückzu-lassen. Ich mache dich nicht verantwortlich für den Tod deiner Freundin. Du solltest das genauso wenig tun.“
„Du verstehst nicht. Ich wusste nicht, dass du es ernst gemeint hast. Ich hab’s nicht kapiert. Ich wusste nicht, dass sie wirklich sterben würde – ich dachte, du hättest das als Witz gemeint, oder … Ich weiß auch nicht. Nicht als Witz, aber irgendwie … Ich wusste nicht, dass du das wirklich tun kannst, und jetzt, da ich es weiß – bitte. Sie hat es nicht verdient, so jung zu sterben.“
„Und du hast es nicht verdient, die Hälfte deines restlichen Lebens für sie aufgeben zu müssen.“
Frustriert seufzte ich, den Tränen nahe. Was wollte er von mir?
„Du hast recht, ich will nicht hierbleiben. Dieser Ort machtmir Angst. Du machst mir Angst. Ich weiß nicht, was du bist oder was das hier für ein Ort ist, und den Rest meines Lebens hier zu verbringen ist das Letzte, was ich will. Vielleicht war Ava am Anfang nicht gerade nett zu mir, aber jetzt ist sie meine Freundin. Sie hat nicht verdient zu sterben, und ihr Tod – es ist meine Schuld. Ich hätte es sein sollen, die stirbt, nicht sie, und damit kann ich nicht leben. Ich kann mich nicht jeden Tag im Spiegel ansehen und dabei wissen, dass es meine Schuld ist, dass ihre Familie den Schmerz durchmachen muss, sie zu verlieren, genau wie …“ Ich hielt inne. Genau wie ich den Schmerz durchmachen musste, meine Mutter zu verlieren.
„Ich kann es einfach nicht. Also, wenn das bedeutet, dass Ava zurückkommt, bleibe ich hier, solange du willst, versprochen. Bitte.“
Das war nicht
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