Das göttliche Mädchen - Carter, A: Das göttliche Mädchen
noch schlimmer machen.“
Ich verfiel in Schweigen, während ich mir das Hirn zermarterte, wer, um alles in der Welt, es sein könnte, der mich aufregen würde. Mir fiel niemand ein.
„Das verstehe ich nicht.“
„Das wirst du noch.“
Darauf konnte ich nichts erwidern, und das schien er zu wissen, denn statt mich erwartungsvoll anzusehen, wandte er sich wieder seinem Buch zu. Ich betrachtete ihn, suchte nach irgendeinem Anzeichen dafür, dass er nicht menschlich war. Seine Gesichtszüge waren zu symmetrisch, um normal zu sein; auf seiner glattenHaut zeigte sich nicht einmal eine Spur von Bartstoppeln; er hatte dichtes rabenschwarzes Haar, das ihm bis fast auf die Schultern fiel – und dann erst die beunruhigende Farbe seiner Augen … Die Augen waren es, an denen ich es sah. Wirbelnde Seen aus Silber, die ständig in Bewegung zu sein schienen. In dem gedämpften Licht schienen sie beinah zu leuchten.
Erst als er sich räusperte, begriff ich, dass ich ihn anstarrte. Obwohl ich immer noch verärgert war, dass er mir nicht die Wahrheit anvertraute, wollte ich die Situation auflockern und fragte das Erstbeste, das mir in den Sinn kam.
„Was machst du tagsüber? Wenn du nicht hier bist, meine ich. Oder bist du immer hier?“
„Nein.“ Wieder schob er das Lesezeichen ins Buch und legte den Roman zur Seite. „Meine Brüder und Schwestern und ich haben alle Pflichten, die wir erfüllen. Ich herrsche über die Toten, deshalb verbringe ich einen Großteil meiner Zeit in der Unterwelt, beaufsichtige Entscheidungen und sorge dafür, dass alles glattläuft. Natürlich ist es wesentlich komplizierter als das, aber wenn du die Prüfung bestehst, wirst du die Eigenheiten meiner Arbeit kennenlernen.“
„Oh.“ Ich biss mir auf die Unterlippe. „Wie ist die Unterwelt?“
„Alles zu seiner Zeit“, erwiderte er und griff über das Bett, um kurz seine Hand auf meine zu legen. Seine Handfläche war warm, und ich riss mich zusammen, um nicht zu erbeben. „Was ist mit dir? Wie verbringst du deine Zeit am liebsten?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Ich lese gern. Und ich zeichne, allerdings nicht besonders gut. Mom und ich haben früher zusammen im Garten gearbeitet, und sie hat mir das Kartenspielen beigebracht.“ Neugierig sah ich zu ihm auf. „Kannst du Karten spielen?“
„Einige Spiele beherrsche ich hinreichend, auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob man sie heute noch spielt.“
„Vielleicht könnten wir mal was spielen“, schlug ich vor. „Wenn du schon jeden Abend hier sein wirst, meine ich.“
Er nickte. „Das wäre schön.“
Und wieder schwiegen wir beide. Er sah entspannt aus, wie er da so auf dem Bett lag, als hätte er das schon hundertmal gemacht. Soviel ich wusste, hatte er das vielleicht sogar, doch dar-über wollte ich nicht nachdenken. Ich war nicht die Erste, aber ich würde die Letzte sein. Ihn von mir zu stoßen würde keinem von uns helfen – bei diesem Gedanken schlug mein Herz schneller –, und wenn ich hier schon für sechs Monate festsaß, wollte ich es mir nicht mit ihm verscherzen. Leider war ich trotzdem am Ende meiner Kräfte.
Sekundenlang focht ich einen Kampf mit mir selbst aus, schwankte hin und her zwischen dem, was richtig war, und dem, was ich wollte. Eigentlich hätte ich mit ihm reden sollen, ihm mehr Fragen stellen, ihn kennenlernen. Doch alles, was ich wollte, war schlafen – was ich niemals fertigbringen würde, wenn er blieb, selbst wenn er mucksmäuschenstill war. Egal, was er über Pflichten und Erwartungen gesagt hatte – diese Nervosität würde nicht über Nacht verschwinden.
„Henry“, sprach ich ihn schließlich leise an. Er hatte wieder begonnen zu lesen, doch sofort waren seine Augen auf mich gerichtet. „Bitte versteh das nicht falsch, aber ich bin wirklich müde.“
Er stand auf und nahm sein Buch mit. Statt wütend oder verletzt war sein Gesichtsausdruck so neutral wie immer.
„Es war für uns beide ein langer Tag.“
„Danke.“ Ich schenkte ihm ein Lächeln und hoffte, ihn damit zu beschwichtigen, falls er doch sauer auf mich sein sollte.
„Ist doch selbstverständlich.“ Er ging zur Tür. „Gute Nacht, Kate.“
Es war nur eine Kleinigkeit, doch bei dem Hauch von Zärtlich-keit, die in seiner Stimme mitschwang, errötete ich.
„Nacht“, sagte ich und hoffte, er könnte meine roten Wangen vom anderen Ende des Zimmers aus nicht sehen.
„Also magst du ihn.“ Es war keine Frage, und ärgerlich blickte ich meine grinsende
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