Das göttliche Mädchen - Carter, A: Das göttliche Mädchen
schaffte es gerade so, mir das Kinn zu lecken.
„Danke“, sagte ich sanft. „Das ist wirklich lieb von dir.“
„Es ist mir eine Freude“, erwiderte Henry und stand auf. „Ichlasse euch jetzt allein und gebe euch Gelegenheit, euch besser kennenzulernen. Glaub mir, der Kleine hat ein sehr sonniges Gemüt und ist quietschvergnügt. Ganz stubenrein ist er noch nicht, aber er lernt schnell.“
Das Hündchen kletterte höher und schaffte es, meine Wange zu erreichen. Ich grinste, und als Henry die Hand auf die Tür-klinke legte, sagte ich: „Henry?“
„Ja?“
Ich presste die Lippen aufeinander und versuchte die richtigen Worte zu finden, die ihn dazu bringen würden, bleiben zu wollen. Die ihn dazu bringen würden, dass er es für mehr versuchen wollte als bloß um meinetwillen. Doch mir fiel nichts ein, also brachte ich nach einem Moment, der sich weit über das höf-liche Maß auszudehnen schien, nur schüchtern hervor: „Bitte gib nicht auf.“
Als er schließlich antwortete, war seine Stimme so leise, dass ich ihn kaum hören konnte.
„Ich werde es versuchen.“
„Bitte“, wiederholte ich, diesmal drängender. „Nach allem, was passiert ist – das darfst du nicht. Ich weiß, du vermisst sie, aber …“
Stille senkte sich zwischen uns.
„Aber was?“
„Bitte … Gib mir einfach eine Chance.“
Er blickte fort, und im schwachen Licht sah ich, wie er in sich zusammensank, so als wollte er sich so klein wie möglich machen.
„Natürlich“, erwiderte er und öffnete die Tür. „Schlaf gut.“
Ich grub die Nase in das weiche Fell meines Hundes. Ich wollte nicht, dass Henry ging. Ich wollte Karten spielen oder reden oder lesen – alles, was ihn irgendwie von Persephone abgelenkt hätte. Nach der Nacht, die er gehabt hatte, verdiente er wenigstens das. Wir beide verdienten es.
„Bleib“, platzte ich heraus. „Bitte.“
Doch als ich aufsah, war er bereits fort.
13. KAPITEL
WEIHNACHTEN
Während der nächsten Wochen war meine gemeinsame Zeit mit Henry fast unerträglich. Zwar verbrachten wir immer noch die Abende miteinander, doch unser Zusammensein war nicht länger entspannt, und jede Unterhaltung, jede zufällige Berüh-rung wirkte gezwungen. Nie sah er mir in die Augen, und je näher Weihnachten rückte, desto mehr schien er sich von mir zurückzuziehen. Ich wollte ihn vor die Wahl stellen: Entweder würde er sich zusammenreißen, oder ich würde gehen. Das Problem war allerdings, dass es bloß eine leere Drohung wäre und er es wüsste. Schlimmer noch, ich hatte Angst, er würde mich beim Wort nehmen.
Die Wintersonnenwende kam, und die Hälfte meiner Zeit auf Eden Manor war vorüber.
„Ich versteh’s nicht“, schimpfte ich, während ich auf dem Gehweg hin und her tigerte. „Er benimmt sich, als wollte er nichts mehr mit mir zu tun haben.“
Meine Mutter und ich waren in der Nähe eines Spielplatzes im Central Park. Trotz des tiefen Schnees, der Eden Manor umgab, herrschte hier Hochsommer. In der Ferne hörte ich Kinder toben, doch ich war zu sehr mit Henrys ablehnendem Verhalten beschäf-tigt, um den Tag zu genießen.
„Was, denkst du, könnte der Grund sein?“, fragte meine Mutter. Sie saß auf einer Bank und sah mir zu, augenscheinlich völlig ungerührt.
„Ich weiß es nicht“, gab ich frustriert zurück. „Was, wenn er wirklich aufgegeben hat? Was soll ich dann tun?“
„Versuch es weiter, bis es nicht mehr geht“, erwiderte sie. Subtil, aber doch wahrnehmbar schwang in ihrer Stimme ein so stählerner Unterton mit, dass ich mich fragte, ob sie all dem tatsächlich so gelassen gegenüberstand, wie es schien. „Und selbst dann machst du noch weiter.“
Ich stopfte die Hände in die Hosentaschen. So einfach war es nicht, und das wusste sie auch.
„James hat gesagt, keins der anderen Mädchen hätte länger als bis Weihnachten gelebt – meinst du, das ist der Grund, warum er mir aus dem Weg geht? Dass er denkt, ich würde jeden Moment tot umfallen?“
„Vielleicht“, meinte sie. „Oder vielleicht ist ihm klar geworden, dass du ihm wichtig bist, und er hat Angst, dich auch zu verlieren.“
Ich stieß einen verächtlichen Laut aus. „Mit Sicherheit. Er guckt mich doch nicht mal an.“
Sie seufzte. „Du bist diejenige, die Zeit mit ihm verbringt, Kate, nicht ich. Ich kann nur von dem ausgehen, was du mir erzählst. Und wenn Henry wirklich so unglücklich ist, wie er klingt, dann bezweifle ich, dass irgendjemand anders es schafft, ihn da
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