Das göttliche Mädchen - Carter, A: Das göttliche Mädchen
Noch nicht.“
„Warum nicht?“, wollte ich mit trockener Kehle wissen, wäh-rend mir klar wurde, dass ich Ava nicht wiedersehen würde. Nach allem, was wir seit September gemeinsam durchgestanden hatten, fühlte ich mich, als hätte ich sie verraten. Aber hatte sie sich nicht in gewisser Weise selbst verraten? Ich wusste, dass es nicht ihre Schuld war, nicht wirklich – sie hätte nicht voraussehen können, dass so etwas geschehen würde. Doch sie war achtlos gewesen, und ich hatte tatenlos dabei zugesehen. Ich trug ebenfalls einen Teil der Schuld. Doch egal, wem man die Schuld zuwies – Xander war und blieb tot.
„Weil du noch nicht die Fähigkeit besitzt, eine Lüge zu durchschauen.“ Er ging zu meinem Kleiderschrank und begann, die Kleider durchzusehen, als unterhielten wir uns über das Wetter oder etwas ähnlich Banales.
Fragend sah ich ihn an. „Und du kannst das?“
Er ignorierte mich.
„Noch hast du die Macht, in die Unterwelt hinabzusteigen und Xander zu befragen. Glücklicherweise wird das nicht nötig sein. Ich weiß bereits, was geschehen ist.“
Ich hob Pogo hoch und drückte ihn an meine Brust. Sein kleiner warmer Körper tröstete mich. Ich wollte nicht fragen, hatte Angst vor der Möglichkeit, Theo könnte schuldig sein, also schwieg ich. Henry konnte nicht ewig meinen Schrank durchwühlen, und früher oder später würde er es mir erzählen, ob ich es hören wollte oder nicht.
Eine Minute verging, und schließlich legte er eine saubere Jeans und einen weißen Pullover neben mir aufs Bett.
„Theo sagt die Wahrheit und wird deshalb nicht belangt werden. Deine Strafe für Ava ist angemessen, und es gibt keinen Grund für mich, einzugreifen. Ich werde die anderen entsprechend anweisen, um sicherzustellen, dass sie deinen Anweisungen Folge leistet, und damit ist diese Angelegenheit erledigt.“
Wie betäubt nickte ich. Dann setzte ich Pogo auf den Boden und trug die Sachen zu dem Paravent in der Ecke, um mich umzuziehen. Es war alles gesagt, und das Gewicht meines Urteils senkte sich schwer auf meine Schultern. Hatte ich richtig gehandelt oder im Affekt reagiert? Und wie würde Ava, die sowieso schon so allein war in diesem Haus, es aushalten, auch noch von mir und Theo abgeschnitten zu sein?
„Dann sehe ich dich unten beim Frühstück“, erklang Henrys Stimme, und schon beim Gedanken an Essen wurde mir erneut schlecht.
Ich hörte die Tür aufgehen, aber nicht ins Schloss fallen. Immer noch in Gedanken daran versunken, was ich meiner einzigen wahren Freundin auf Eden Manor angetan hatte, knöpfte ich meine Jeans zu und trat hinter dem Paravent hervor – nur um Henry immer noch in der Tür stehen zu sehen. Seine Schultern schienen wie von einer unsichtbaren Last heruntergedrückt, und die Hände hatte er tief in die Taschen geschoben. Sein Anblick erinnerte mich so sehr daran, wie er in Persephones Zimmer ausgesehenhatte, dass mich kalte Furcht erfasste. Doch seine Augen waren nicht tot und leer wie damals vor so vielen Wochen – er war erschöpft, aber er hatte nicht wieder aufgegeben.
„Was du heute getan hast, ist niemals leicht“, sagte er, „aber es war notwendig. Ich kann mir nicht vorstellen, wie schwierig das für dich gewesen sein muss, besonders weil Ava deine Freundin ist.“
„War“, wisperte ich, aber ich war mir nicht sicher, ob er mich hörte.
„Fühl dich dafür nicht schuldig. Du bist nicht für ihr Handeln verantwortlich. Ich bereue es nicht, sie hierher eingeladen zu haben, denn ich weiß, dass sie dir bis heute eine gute Gesellschaft war. Deine Sicherheit und dein Glück sind das Wichtigste für mich.“
Ich nickte, und er ging. Als mein Blick auf die Spiegelung fiel, die er mir geschenkt hatte und die nun auf meinem Nachttisch stand, fühlte ich mich noch schuldiger als zuvor. Egal, wie falsch sie sich verhalten hatte – wenn ich nicht einmal Ava beschützen konnte, wie sollte ich das dann jemals bei Henry schaffen?
Selbst wenn dies keine Prüfung gewesen war, standen mir immer noch mehrere bevor. Ein falsches Wort, ein falscher Gedanke, eine falsche Handlung, und all das hier wäre vorbei. Henrys Leben war nicht weniger zerbrechlich als das von Xander oder selbst das meiner Mutter, und ich stand kurz davor, unter der Last zusammenzubrechen, allein für ihn kämpfen zu müssen. Henry stand am Spielfeldrand, weil ich ihn dort hingezerrt hatte, ihn gezwungen hatte, zuzusehen und aufzupassen. Doch ich konnte ihn nicht zwingen, Anteil zu nehmen.
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