Das göttliche Mädchen - Carter, A: Das göttliche Mädchen
Doch alles, was ich darauf erwidern konnte, waren ein steifes Nicken und ein sanfter Druck meiner Hand.
Die Dinge, die ich nicht sagen konnte, schnürten mir die Kehle zu und bildeten einen Kloß, den ich nicht hinunterschlucken konnte. Die Tage verstrichen, und meine Gelegenheiten, ihr alles zu sagen, schwanden dahin. Ich wusste, irgendwann würde ich mich dazu zwingen müssen, aber jetzt noch nicht. Solange auf Eden Manor ein nächster Tag auf mich wartete, konnte ich so tun, als gäbe es immer noch Hoffnung, sie müsste niemals sterben.
Je näher ich Henry kam, desto mehr entfernte ich mich von der realen Welt. Doch auch wenn es sich langsam so anfühlte, als würde ich niemals zurückgehen – als würden sich diese sechs Monate bis in alle Ewigkeit erstrecken –, wusste ich, dass es nicht so war. Es würde ein Ende geben, und wir bewegten uns unausweichlich darauf zu.
Trotz Henrys Gesellschaft und meiner ständigen Bewachung war ich einsam. Ella verbrachte jetzt all ihre Zeit bei Theo. Und während Calliope zwar bei mir blieb, wenn Henry nicht da war, wirkte selbst sie nach dem Vorfall an Weihnachten niedergeschlagen. Obwohl James jetzt der Feind war, dachte ich oft an ihn. Es konnte nicht alles an unserer Freundschaft gespielt gewesen sein, und es fehlte mir, ihn vermissen zu können, ohne wütend darüber zu sein. Er war nicht derjenige, der versuchte, mich umzubringen, dessen war ich mir jetzt sicher. Und irgendwie war es tröstlich zu wissen, dass er auf meiner Seite war, auch wenn das nicht auf Gegenseitigkeit beruhte.
Ava vermisste ich am meisten. Jedes Mal, wenn ich etwas sah, das ich ihr zeigen wollte, oder mir etwas einfiel, das ich ihr erzählen musste, dauerte es ein paar Sekunden, bevor ich mich daranerinnerte, dass ich sie niemals wiedersehen würde. Zumindest nicht als Freundin. Ab und zu erhaschte ich einen Blick auf sie, wenn sie einen Raum verließ, den ich gerade betrat, oder am anderen Ende eines Flurs, in den ich abbog, doch nie war sie länger als einen Moment zu sehen.
Henry zwang mich nicht, über den Schmerz und die Schuldgefühle wegen unserer Trennung zu reden, obwohl es mich manchmal die ganze Nacht lang wach hielt. Er ließ mich meinen eigenen Weg finden, damit zurechtzukommen, und ich wusste nicht, ob ich ihn dafür liebte oder hasste. Das Wissen, dass es Ava genauso schlecht gehen musste wie mir, machte es nur noch schlimmer. Sie mochte nicht die beste Freundin der Welt sein, und vielleicht war sie manchmal ein bisschen zu selbstsüchtig, aber ich war auch nicht perfekt. Mit jedem Tag, der verging, bereute ich mein Urteil mehr. Es musste Ava erlaubt sein, Fehler zu machen. Das taten wir alle. Und was gab mir das Recht, sie dafür zu bestrafen, wenn sie doch einfach nur versucht hatte, ihre Einsamkeit etwas zu lindern?
Im Versuch, die leeren Stunden irgendwie zu füllen, verbrachte ich mehr und mehr Zeit in den Ställen bei Phillip. Dort war es ruhig, und er drängte mir keine Unterhaltung auf. Er schien zu verstehen, was ich durchmachte, und bot mir an, so viel Zeit mit den Pferden zu verbringen, wie ich wollte. Von ihm war das ein sehr großzügiges Angebot, wenn man bedachte, wie eifersüchtig er über sie wachte. Doch trotzdem konnte ich darüber nicht vergessen, was ich verloren hatte.
Es war gegen Ende Januar, als Henry eines Nachmittags im Garten zu mir kam, wo ich in einen dicken Mantel eingehüllt neben einem winterkahlen, schneebedeckten Rosenstrauch kniete. Ich wusste höchstens vage, wie ich hierhergekommen war, doch es spielte auch keine große Rolle. Nachdem Irene mir während des Unterrichts das Datum gesagt hatte, war alles irgendwie verschwommen. Erst Henrys Stimme holte mich zurück in die kalte Realität.
„Kate?“ In einem schweren schwarzen Mantel stand er ein paarSchritte von mir entfernt, ein harter Kontrast in all dem Schnee. Ich blickte nicht auf.
„Heute ist der letzte Geburtstag meiner Mutter.“
Er rührte sich nicht. Ein Teil von mir wollte, dass er blieb, wo er war, doch ein wesentlich nachdrücklicherer Teil wünschte, er würde mich gut genug kennen, um zu wissen, wann ich verzweifelt dringend eine Umarmung brauchte.
„Sie fand es immer furchtbar, im Januar Geburtstag zu haben“, fuhr ich fort. Meine Stimme klang tonlos, während ich die leblose Pflanze vor mir anstarrte. „Und meinte, sie sei nicht in Feierlaune, wenn es keine Blumen gibt und alle Bäume tot sind.“
„Sie schlafen nur“, erwiderte Henry. „Die Bäume kommen
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