Das göttliche Mädchen - Carter, A: Das göttliche Mädchen
Stattdessen öffnete Nicholas die Tür und sah sorgsam an mir vorbei.
„Im Bett“, erklärte er schroff. „Sie ist krank.“
Henry ballte seine Hände so fest zu Fäusten, dass ich Angst hatte, er würde vor Wut auf irgendetwas einschlagen und dabei das ganze Anwesen einreißen.
„Pass auf sie auf“, befahl er und stürmte zur Tür. „Niemand kommt ohne meine Erlaubnis in dieses Zimmer oder hinaus, verstanden?“
Nicholas nickte, seine Miene war ausdruckslos. Das war nicht unbedingt hilfreich.
„Henry?“, wiederholte ich verzagt, und das Herz pochte mir schmerzhaft in der Brust. „Was ist los?“
„Es tut mir leid“, sagte er und warf mir einen Blick zu, der mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. „Es tut mir so unendlich leid.“
Und ohne jegliche weitere Erklärung ging er.
16. KAPITEL
DER STYX
Den Rest des Morgens verbrachte ich weinend im Bett. Mir dröhnte der Kopf, und mein ganzer Körper war so wund, dass an Aufstehen nicht einmal ansatzweise zu denken war – doch das Einzige, was mich beschäftigte, war die Art, wie Henry mich angesehen hatte, bevor er gegangen war. Als würde er mich niemals wiedersehen.
Es war nicht fair, und ich konnte einfach nicht verstehen, warum er mir das antat. War es, weil ich gesagt hatte, dass ich ihn liebte? Es war schnell gegangen, und ich hatte nicht lange darüber nachgedacht, doch als ich es ausgesprochen hatte, hatte ich gewusst, dass es die Wahrheit war. Ich war bereit, alles zu tun, um ihm eine zweite Chance zu verschaffen, selbst wenn das bedeutete, jegliche Entscheidungsfreiheit über mein Leben aufzugeben. Wenn das nicht Liebe war, wusste ich nicht, was sonst. Auch war es ja nicht so, als erwartete ich, dass er meine Liebe erwiderte.
Je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr setzte sich das Bild vor meinem inneren Auge zusammen. Das Geständnis, das unaufhaltsam aus mir herausgesprudelt war – das plötzliche Bedürfnis, ihm so nah zu sein –, die Warnung, nichts zu essen. Ich war vergiftet worden. Nur dass es diesmal auch Henry und Calliope getroffen hatte und wir alle noch am Leben waren.
Es hatte nicht den Zweck gehabt, mich umzubringen. Es war ein Aphrodisiakum gewesen.
Als mir das dämmerte, wurde alles wesentlich klarer. Blieb nur die Frage: Wer hatte das getan? Versuchte jemand, mir und Henry einen Schubser in die richtige Richtung zu geben, oder steckte etwas anderes dahinter? Und wenn dem so war, wer hasste mich genug, um es überhaupt zu versuchen?
Die einzige Person, die mir einfiel, war Ella. Sie hasste Ava, und vielleicht, wenn sie glaubte, ich wäre auf Avas Seite … Oder vielleichtdachte sie, wenn sie mich loswürde, würde Ava auch verschwinden. So wie Ava sich in letzter Zeit verhalten hatte, konnte ich Ella daraus nicht einmal einen Vorwurf machen. Doch was würde Ella dadurch gewinnen?
James? Den Gedanken verwarf ich genauso schnell wieder, wie er aufgetaucht war. Henry und mich enger zusammenzubringen war das Letzte, was er wollte. Möglich wäre es aber, dass er Folgendes damit bezweckt hatte: dass Henry davonstürmte und mich für den Rest meiner Zeit hier ignorierte. Doch ich war mir sicher, das war ein Risiko, das James nicht eingegangen wäre. Henry auch nur die kleinste Entschuldigung zu geben, sich in mich zu verlieben und um sein Reich zu kämpfen, wäre gefähr-lich für ihn. Davon abgesehen war der einzige todsichere Weg, die ganze Sache zu beenden, mich bei einer Prüfung versagen zu lassen und …
Mir gefror das Blut in den Adern. Natürlich. Die Prüfungen. Völlerei, die sieben Todsünden – Wollust.
Mich überkam tiefe Verzweiflung. Ich hatte versagt, oder etwa nicht? Auch wenn es nicht meine Schuld war, auch wenn es ein Aphrodisiakum gewesen war – das spielte keine Rolle. Das musste der Grund sein, dass Henry so außer sich gewesen war. Nichts anderes machte Sinn, außer er hatte seine Zuneigung nur um meinetwillen vorgetäuscht.
Darüber wollte ich nicht nachdenken. Ebenso wenig wollte ich über mein mögliches Versagen nachdenken, also schleppte ich mich aus dem Bett und war zutiefst dankbar, dass Nicholas draußen vor meiner Tür und nicht in meinem Zimmer postiert war. Tabletten hatte ich nicht, also musste ich so mit den Schmerzen klarkommen, die offensichtlich eine Nebenwirkung der ominösen Droge waren, die uns eingeflößt worden war. Doch auch das ließ langsam nach.
Ich zog mich an, machte meinem revoltierenden Körper zum Trotz das Bett und räumte meine Klamotten vom
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