Das göttliche Mädchen - Carter, A: Das göttliche Mädchen
die letzten sechs Monate über immer eingesperrt gewesen? Die Stimme in meinem Hinterkopf klang erstaunlich bitter. War ich nicht gefangen gewesen wie ein Tier?
Nein. Ich hatte mich bereitwillig auf das hier eingelassen, und Henry hatte klargemacht, dass er mich nicht gegen meinen Willen festhalten würde. Es war furchtbar von mir, etwas Derartiges auch nur zu denken. Ich war nicht Persephone.
Am Mittag holte mich Calliope ab, den Picknickkorb schon über den Arm gehängt. Sie wirkte so glücklich, als hätten wir die Unterhaltung vom Vortag nie geführt, und ich wagte das Thema nicht noch einmal zur Sprache zu bringen. Wir hakten uns beieinander ein, und auf dem Weg durch die Korridore von Eden Manor hielt ich angespannt die Augen nach Henry auf. Immer war er da gewesen, wenn ich es mir gewünscht hatte, doch jetzt war keine Spur von ihm zu entdecken.
Als wir das Haus verließen, folgte Nicholas uns mit ein paar Schritten Abstand. Auch wenn es weiterhin anstrengend blieb, verfolgt zu werden, war es beruhigend, ihn dort zu wissen. Ob er humpelte oder nicht, niemand wäre so verrückt, sich mit ihm anzulegen. Pogo schien ihn auch zu mögen – auf dem Weg durch den Park klebte er an Nicholas statt an mir.
„Kate?“
Beim Klang meines Namens blickte ich auf. Augenblicklich war Nicholas zwischen mir und Ava, die auf der anderen Seite eines Brunnens stand. So nah war ich ihr seit Weihnachten nicht mehr gewesen.
Ich wollte sie nicht ignorieren, doch bei all dem, was gerade zwischen Henry und mir geschah, brachte ich nicht die Kraft auf, mich auch noch mit ihr zu beschäftigen. Sie verursachte mir Schuldgefühle, und mein momentanes Gefühlschaos war zu groß, um mich auch damit noch zu beschäftigen.
„Kate …“ Ava versuchte, an Nicholas vorbeizukommen, doch er stellte ein unüberwindbares Hindernis dar. „Bitte. Sie wollten mich nicht in dein Zimmer lassen, und ich muss dir …“
„Kapierst du’s nicht?“, fuhr Calliope sie unvermittelt und so giftig an, dass ich sie erschrocken anstarrte. „Sie will nicht mit dir reden.“
An Nicholas’ Ellbogen vorbei erhaschte ich einen Blick auf Avas Gesichtsausdruck. Sie sah bestürzt aus.
„Kate“, wiederholte sie, und Tränen stiegen ihr in die Augen. „Bitte. Nur für eine Minute.“
Wie angewurzelt stand ich da. Noch nie hatte ich sie so ver-ängstigt gesehen, und wider besseres Wissen fragte ich: „Worum geht’s?“
Nervös sah sie zu Nicholas und Calliope hinüber.
„Können wir allein reden?“
Finster blickte Nicholas sie an. „Keine Chance.“
„Bitte, Nicholas“, bat Ava ihn so eindringlich, dass ich mich unwillkürlich fragte, ob sie ihn auch schon um den Finger gewickelt hatte. „Ich brauche nur einen Moment …“
Wieder unterbrach Calliope sie. „Wir gehen jetzt.“ Sie zog an meinem Ellbogen und steuerte auf den Wald zu. Ich wehrte mich nicht, obwohl ich noch vor wenigen Tagen darauf bestanden hätte, mit Ava zu reden. Doch irgendjemand hatte Henry und mich vergiftet, und sosehr ich den Gedanken auch verabscheute: Ava hatte ein Motiv. Sie hätte nur in die Küche schlüpfen und das Aphrodisiakum in unsere Getränke mischen müssen. Vielleichthatte sie bloß helfen wollen, hatte Henry und mir einen Stoß geben wollen und nicht gewusst, was das für Konsequenzen haben würde. Möglicherweise hatte sie aber auch versucht, mein Leben so gründlich zu zerstören, dass ich genauso allein wäre wie sie. Keine von beiden Möglichkeiten war angenehm.
Als wir den Waldrand erreichten, warf ich einen Blick über die Schulter und sah, wie Nicholas Ava am Arm zurückhielt, damit sie uns nicht folgte. Sie wehrte sich, wirbelte herum und hielt ihm eine Standpauke, und ich war froh, dass ich sie nicht hören musste. Aber wenigstens kam sie nicht hinter uns her.
„Wie unangenehm“, kommentierte Calliope und stieg vorsichtig über eine dicke Wurzel, die aus dem Boden ragte. „Es muss furchtbar sein, in ihrer Haut zu stecken, aber das ist noch lange keine Ausrede dafür, sich so zu benehmen.“
Ich wagte einen weiteren Blick. Mittlerweile holte Nicholas langsam zu uns auf, und Ava saß mit zusammengesunkenen Schultern auf dem Rand des Springbrunnens. Sie sah mir hinterher.
Abrupt drehte ich den Kopf wieder nach vorn und blickte für den Rest des Weges nicht ein einziges Mal zurück. Ich schwieg und versuchte meine Gedanken zu sortieren, doch mein Kopf war immer noch leicht benebelt von dem, was in der heißen Schokolade gewesen war. Lag ich
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